Essen/Bottrop. 62.000-mal soll ein Apotheker Arzneien für Schwerkranke verdünnt haben

Trotz allem, was passiert ist, laufen die Geschäfte immer noch gut. Die Apotheke mit der rosa gestrichenen Altbaufassade in der Fußgängerzone von Bottrop ist ein Kundenmagnet – dabei lastet auf dem Mann, der sie betreibt, ein ungeheuerlicher Verdacht. Peter S. soll Krebsmedikamente gestreckt haben. 61.980 Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz wirft die Staatsanwaltschaft Essen dem Mann vor. Viele Patienten beziehungsweise Angehörige haben außerdem Strafanzeigen wegen Tötung oder Körperverletzung erstattet – sie fürchten, dass Peter S. den Tod von Kunden in Kauf nahm, um sich zu bereichern.

Die Staatsanwaltschaft Essen hat in der Anklageschrift 35 Medikamente aufgelistet, die der Apotheker in Zehntausenden von Fällen mit weniger Wirkstoff als verordnet hergestellt hat. Diese gepanschten Mittel soll er teuer verkauft haben. Nach Einschätzung von Oberstaatsanwältin Anette Milk ist durch diesen gewerbsmäßigen Betrug ein Schaden von 56 Millionen Euro entstanden.

Aufgeflogen ist die Sache durch Mitarbeiter der Apotheke: Eine frühere Assistentin überbrachte eine verdächtige Infusion der Polizei. Die ließ das „Medikament“ untersuchen – es enthielt keinerlei Wirkstoff, sondern war eine reine Kochsalzlösung. Ende 2016 wurde der Apotheker festgenommen.

Der Apotheker warals Wohltäter bekannt

In der Ruhrgebietsstadt Bottrop war der Pharmazeut ein angesehener Mann. Finanziell schien er sorgenfrei zu sein. Seine Apotheke beschäftigt 90 Mitarbeiter, zudem investierte er in mehrere Ärztehäuser in der Nachbarschaft. Der Alleinstehende habe sich Anerkennung erkauft, indem er als Gönner auftrat, heißt es: Er spendete hier, spendete dort, organisierte Spendenläufe für das örtliche Hospiz. Zuletzt war der Erlös fast sechsstellig.

Seine Apotheke war bis zum Bekanntwerden der Vorwürfe eine sogenannte Onkologie-Schwerpunktapotheke. Solche Apotheken verfügen über sterile Labore und versorgen Patienten individuell mit krebshemmenden Medikamenten. Der Beschuldigte habe „die Beschaffungspraxis seiner Apotheke systematisch so ausgerichtet, dass es von vornherein unmöglich war, die große Vielzahl der von ihm vertriebenen Zubereitungen mit den verschriebenen Wirkstoffen in den verschriebenen Mengen herzustellen“, heißt es in der Anklage. Die Zahl der Betroffenen geht in die Tausende: Es sind Menschen, die sich fragen, ob sie durch die wirkungslosen Medikamente wertvolle Lebenszeit verloren haben oder ob inzwischen Verstorbene noch leben könnten.

Das mögliche Ausmaß des Betrugs ist beinahe unvorstellbar: Der errechnete Schaden von 56 Millionen Euro bezieht sich laut Anklage allein auf gesetzliche Krankenkassen. Mehr als 10.000 Fälle, die mit privaten Versicherungen abgerechnet wurden, seien gar nicht erst berücksichtigt worden. Das Gericht muss die 820-seitige Anklage nun prüfen und dann entscheiden, ob es ein Verfahren eröffnet.