Berlin . Angehörige der Opfer des Berliner Anschlags hoffen nach mutmaßlichem Vertuschungsskandal auf Aufklärung

Manchmal sei er einfach nur erschöpft, sagt Petr Čižmár. Der 39-Jährige hat bei dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember des vergangenen Jahres seine Frau Nada verloren. Sohn David (5) seine Mutter. „Man realisiert erst Wochen später, was da eigentlich passiert ist“, sagt er. So frage ihn sein Sohn häufig, ob er selbst noch lebe. Einfach so. Aus dem Nichts. „Das ist hart“, sagt Čižmár im Gespräch mit dieser Redaktion. „Zeit heilt zwar Wunden. Das kann aber sehr lange dauern.“

Seit den Enthüllungen des Sonderermittlers, wonach im Berliner LKA möglicherweise Akten gefälscht wurden und aus dem professionellen Drogendealer Anis Amri nachträglich der Kleinkriminelle Anis Amri wurde, ist klar: Der Anschlag hätte möglicherweise verhindert werden können, weil der Vorwurf des banden- und gewerbsmäßigen Handels mit Drogen ausgereicht hätte, um Amri in Untersuchungshaft zu nehmen. „Wenn das stimmt, könnte Nada noch leben“, sagt Petr Čižmár. Er sagt das ruhig. Ohne Wut. „Ein Staat muss seine Bürger doch schützen. Und wenn der Staat versagt hat, sollten wir entschädigt werden“.

Mit dieser Meinung steht der 39-jährige Tscheche nicht allein da. Auch andere Angehörige bereiten sich darauf vor, Schadenersatzansprüche geltend zu machen. Das ist aber nicht so einfach. Denn der Kläger ist in der Beweispflicht. Das heißt: Dem Staat müsste schuldhaftes Versagen nachgewiesen werden. Auch deshalb setzen die Opfer so viel Hoffnung in die Arbeit des Sonderermittlers.

Opferanwälte bereiten Klagen vor

Sieben der insgesamt zwölf Todesopfer stammen aus Deutschland, die anderen aus Israel, Italien, Tschechien, der Ukraine und Polen. Darüber hinaus wurden 67 Menschen verletzt. Einzelne Opferanwälte gehen davon aus, dass am Ende bis 100 Millionen Euro an Entschädigung fließen könnten. Bereits am vergangenen Wochenende hatte sich Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) mehrere Stunden mit Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz getroffen. Auch Ex-SPD-Chef Kurt Beck, der zum Beauftragten für die Opfer und Hinterbliebenen des Terroranschlags ernannt wurde, steht mit den Opfern im Austausch.

Vergangenen Mittwoch traf sich Beck auch mit Petr Čižmár in einer Gaststätte in Hildesheim. „Ich habe Herrn Beck erzählt, wie mein Leben als alleinerziehender Vater jetzt aussieht“, sagt Čižmár. Er ist promovierter Physiker und arbeitet seit fünf Jahren in Hildesheim. Von seiner Frau lebte er getrennt. Sie wohnte in Berlin. „Wir haben uns aber noch sehr gut verstanden“, sagt er.

Am Abend des Anschlages sah sich die Familie das letzte Mal. Sohn David nahm er mit nach Hildesheim. Nada traf sich am 19. Dezember mit Arbeitskollegen auf dem Breitscheidplatz. Weihnachten wollten sie wieder zusammen feiern. Doch dann raste Anis Amri mit dem Lkw in den Weihnachtsmarkt. Nada starb.

Noch in der Nacht versuchten Kolleginnen von Nada Petr Čižmár zu erreichen. Er versuchte wiederum, Nada zu erreichen. Doch ihr Handy war aus. Am nächsten Morgen fuhr Čižmár nach Berlin. Er suchte auf Polizeiwachen, in Krankenhäusern, bei Vermisstenstellen. Überall wurde er abgewiesen. Drei Tage klammerte sich Čižmár noch an die Hoffnung, dass Nada überlebt haben könnte – dann kam die offizielle Bestätigung für ihren Tod. Am Abend erhielt Petr Čižmár einen Anruf von der tschechischen Botschaft. Der Botschafter wolle die Nachricht persönlich übermitteln.

Nun, fünf Monate nach dem Anschlag, beginnt für Čižmár und Sohn David ein neuer Abschnitt. Die beiden ziehen demnächst nach Dresden. Es gebe so vieles, was jetzt organisiert werden müsse. Der Umzug. Eine Wohnung. Ein Schulplatz für den Jungen. Die neue Arbeit. Es ist der Versuch eines neuen Lebens.