Herborn. Richter machen sich in Herborn ein Bild von dem Ort, an dem ein Polizist getötet wurde

Der Zug mit dem mutmaßlichen Polizistenmörder von Herborn fährt in den Bahnhof ein. Er hält auf Gleis 2, genau an der Stelle, wo der heute 28-Jährige vor neun Monaten einen Polizisten erstochen und dessen Kollegen schwer verletzt haben soll. Die Türen gehen auf. Richter und weitere Prozessbeteiligte steigen hinzu, um eine wichtige Frage zu klären: Hat der Angeklagte erkennen können, dass sich Polizisten nähern? Die Antwort ist zentral für die juristische Bewertung des Falls.

Der Ortstermin in der hessischen Stadt ist ungewöhnlich für eine Gerichtsverhandlung. „Das ist relativ selten, weil man die meisten Fragen im Gerichtssaal oder mit Sachverständigen klären kann“, sagt Gerichtssprecher Henrik Gemmer.

In diesem Fall aber will sich das Landgericht Limburg, das den mutmaßlichen Mord seit Juni verhandelt, am Tatort ein Bild machen. Denn der Angeklagte hatte ausgesagt, wegen schwieriger Sichtverhältnisse die nahenden Beamten in Uniform aus dem Zug heraus nicht erkannt zu haben. Er habe sich bedroht gefühlt und einen Angriff von Rockern befürchtet. Der Angeklagte argumentiert also mit Notwehr.

Der Aufwand für den Ortstermin ist groß: Zahlreiche Polizisten und Justizwachtmeister sind im Einsatz, um einen Teil des Bahnsteigs zu sperren und die Zuschauer vor dem Einlass zu kontrollieren. Im Dienst sind allerdings keine Beamten der Polizeidirektion Lahn-Dill, für die die beiden 46 und 47 Jahre alten Opfer arbeiteten. Man habe den Kollegen den Einsatz ersparen wollen, sagt Polizeidirektor Rolf Krämer, „weil die Emotionen noch so stark ausgeprägt sind“. Auch die anwesenden Angehörigen des getöteten Beamten kämpfen mit ihren Gefühlen, so dicht am Tatort.

Das Gericht wählte den Ortstermin am späten Abend, um ähnliches Licht wie zur Tatzeit zu haben. An Heiligabend 2015 soll der Angeklagte gegen 7 Uhr morgens die Polizisten attackiert haben, die hinzugerufen worden waren, nachdem der heute 28-Jährige in einem Regionalzug als Schwarzfahrer erwischt worden war.

Damit die Situationen damals und heute vergleichbar sind, müssen alle Details der Rekonstruktion stimmen, wie Gerichtssprecher Gemmer sagt. So können die Prozessbeteiligten wegen einer Panne erst mit einer Stunde Verspätung den Zug betreten. Dieser war erst spiegelverkehrt in den Bahnsteig eingefahren. Also musste er zurück nach Gießen, wenden und erneut nach Herborn rollen. Dann wird noch eine Lampe im Zug ausgeschaltet, weil diese zur Tatzeit defekt war.

Schließlich sind alle Prozessbeteiligten – vom Angeklagten bis zur Nebenklage – im Zug. Er wird so für kurze Zeit zum Gerichtssaal. Während der Angeklagte von mehreren Beamten bewacht wird, schauen sich die anderen um. Sie blicken aus den Fenstern und beobachten, wie sich ein Polizeibeamter langsam nähert: Ähnlich wie am Tattag geht er die Treppen zum Bahnsteig hinauf. Dann bleibt er oben etwas entfernt von der geöffneten Tür stehen. Der Vorgang wird noch einmal wiederholt. Nach 15 Minuten ist das Prozedere beendet.

Und die Erkenntnis? Für den Vertreter der Nebenklage, Jochen Hentschel, ist klar: „Es war erkennbar, dass ein Polizeibeamter sich nähert.“ Anklagevertreter Dominik Mies macht keine genauen Angaben zu seinen Beobachtungen, betont aber, dass er keine Notwehrsituation sehe. Das Gericht will die Erkenntnisse bei der nächsten Verhandlung erörtern. Die Beamten der Polizeidirektion Lahn-Dill hoffen, dass es bald das Urteil spricht. „Die Kollegen warten auf das Urteil, um zur Ruhe zu kommen“, heißt es.