Glambeck. Seit in einem Dorf in Brandenburg ein Storch randaliert, wird der Ort gegen seinen Willen berühmt – und die Anwohner sind machtlos.

Um kurz vor 4 Uhr am Morgen bricht im brandenburgischen Glambeck die Hölle los. Noch liegt die Dämmerung blau in den Straßen des kleinen Dorfes, da legen die Hähne los. Erst von links, dann von rechts schreien sie heiser ihr Kikeriki über die Tore. Dann: aufgeregtes Flattern und Fiepen in einer Linde. Vier Dohlenjunge scheuchen sich bis die Blätter stieben. Vom Kirchturm ruft, sachlich wie eine Zeitansage, ein Kuckuck. Es klingt wie „Vier Uhr! Vier Uhr!“ Als dann noch zwei Kraniche im klagenden Duett tief über das Dorf ziehen, hebt sich im großen Vogelhorst auf dem Kirchendach ein weißer Kopf und sinkt wieder nach unten. Hier brütet ein Storchenpaar.

Ein dritter Storch steht reglos auf einer Straßenlaterne, schaut finster Richtung Kirche und Horst – und schweigt. Um viertel nach Vier breitet er seine Schwingen aus, segelt auf ein Haus gegenüber, trippelt zu einem Fenster – und dann hört man, worüber das Dorf Glambeck seit Wochen klagt: Tokk! Tokk! Tokk! Immer wieder hämmert der Vogel mit seinem roten Schnabel gegen ein Fenster, tänzelt hin und zurück wie ein Boxer, wirft den Kopf in den Nacken, klappert, dann folgt die nächste Runde gegen das Fenster. Tokk! Tokk!

Irgendwo weiter unten wird ein anderes Fenster geschlossen, es klingt genervt. An Schlaf ist in Glambeck nun nicht mehr zu denken. Majestätischen Schrittes schreitet der Storch die leere Dorfstraße hinunter, klopft hier an ein Kellerfenster und dort an eine gläserne Terrassentür, Tokk!, und nimmt schließlich ein dunkel glänzendes Auto in Angriff.

„Terror-Storch“, „Aggro-Vogel“ oder „Angry Bird“

So beginnen in Glambeck die Tage, seit Anfang Mai geht das so. Je kürzer die Nächte, desto früher hämmert und klappert sich der schwarz-weiße Vogel von Haus zu Haus. Der Storch attackiert Fenster, verbeult Autos, weckt die Menschen, die sich fragen: Wann kehrt endlich wieder Ruhe ein? Und warum macht er das bloß?

Das rätselhafte Verhalten des Problemstorchs von Glambeck bewegt mittlerweile ganz Deutschland. „Terror-Storch“, „Aggro-Vogel“ oder „Angry Bird“ nannten die Medien den Vogel und befragten Experten. Wie verläuft die Balz bei Störchen? Ist es normal, dass plötzlich ein dritter Storch in einem Dorf auftaucht, wo schon ein Storchenpaar brütet? Wird der dritte Storch den brütenden Storchenvater vertreiben? Und ist dann die Brut in Gefahr? Oder ist der Vogel einfach verhaltensgestört, wurde er möglicherweise von Menschen falsch aufgezogen oder in der Kindheit traumatisiert?

Schwierige Fragen, auf die auch in Glambeck niemand Antworten hat. Bisher kamen die Störche und flogen im Herbst wieder ab, ganz normal, und auch sonst ist die Welt hier in Ordnung. Das Straßendörfchen liegt idyllisch zwischen weiten Feldern und Wiesen nahe dem berühmten Schloss Meseberg, etwa eine Autostunde nördlich von Berlin. Abends stehen die Rehe am Dorfrand. Ein Bilderbuchdorf mit Kirche in der Mitte, sanierten Höfen und Herrenhäusern, mit Ziegen, Schafen, Ponys – und mit Zukunft. Von 127 Einwohnern sind 28 Kinder, „zwei weitere sind unterwegs“, sagt die Ortsvorsteherin Hilde Peltzer-Blase. Randale oder Skandale gab es hier nie. Selbst die 80 Skelette, die 2012 unter der Dorfstraße gefunden wurden, machten kaum Schlagzeilen. Es war eben ein mittelalterlicher Friedhof, der bei der Straßensanierung zutage kam. Mit dem Storch ist jetzt alles ganz anders.

Einige Anwohner von dem Trubel genervt

Zuerst kamen Lokalreporter, dann das Lokalfernsehen, „dann war das Sat.1-Frühstücksfernsehen bei uns“, sagt Dorfbewohnerin Linda. Sie ist 15 und findet das alles sehr spannend. „Demnächst soll auch noch Terra X vom ZDF kommen.“ Bisher gab es im Dorf für Jugendliche nicht viel mehr Attraktionen als die neue Dorfstraße zum Rollerbladen. Jetzt gibt Linda Interviews, so wie viele Nachbarn auch. Ortsvorsteherin Hilde Peltzer-Blase berichtet, dass der Storch meist dieselben Häuser heimsucht, auch bei ihnen habe er sich schon „an der Terrassentür verlustiert“. Zunächst sei es dem Dackel gelungen, den Vogel zu verscheuchen, „aber am nächsten Tag war er wieder da“.

Inzwischen sind manche Terrassentüren mit Planen und Holz gesichert, die Autos stehen in Carports und Scheunen. Und manche Anwohner sind nicht nur vom Storch genervt, sondern auch, weil immer mehr Fremde an Türen klingeln. Es fahren auch mehr Autos durch Glambeck als sonst. An der Kirche gucken alle nach oben zum Storchennest. Es sind neugierige Nachbarn, aber auch Reporter und Vogelfreunde aus aller Welt.

Die Sorge gilt nicht allein verbeulten Autotüren und gesplitterten Fensterrahmen. Wichtiger, sagt Hilde Peltzer-Blase, seien die Storchenjungen, die auf dem Kirchendach ausgebrütet werden. Durch den Verdrängungskampf der Störche könnten sie in Gefahr kommen. „Wenn sich am Ende die Storchenmutter allein kümmern muss, besteht die Gefahr, dass sie nicht überleben.“ Seit einigen Jahren nimmt die Zahl der Störche in Brandenburg ab. In Glambeck wird zwar kein Storchenkult betrieben wie in anderen brandenburgischen Dörfern. „Aber Glambeck liebt seine Störche und ist stolz auf sie“, sagt die Ortsvorsteherin, die mit ihrem Mann vor 14 Jahren aus Berlin-Reinickendorf in die Idylle zog.

Gibt es noch Hoffnung?

So lange sie denken können, sagen die älteren Glambecker, waren immer Störche da. Es gab sogar zwei Nester. Als die Scheune mit einem Storchennest abbrannte, bekamen die Vögel auf der Kirche ein neues Zuhause. Eine ältere Nachbarin deutet auf das Storchennest, wo jetzt die Störchin Futter aus dem Hals würgt und – offenbar, möglicherweise – damit ein Junges füttert. Genau gesehen hat nämlich bisher niemand, ob tatsächlich schon Junge geschlüpft sind. „Doch, da oben ist schon was, gestern lagen Eierschalen unter dem Nest“, sagt Christina Burchardt fachkundig, die mit ihrer Familie direkt unter dem Storchenhorst wohnt. Mit ihrem Mann Mario betreibt sie einen Nebenerwerbsbauernhof mit Ziegen, Pony, Kaninchen, Hund und Katze. Undenkbar, dass ausgerechnet die Störche dieses Jahr keinen Nachwuchs haben könnten.

Auf der Veranda der Burchardts liegt griffbereit ein Fernglas, damit beobachten sie in jeder freien Minute den Storchenhorst. An diesem Tag sei der dritte Storch nachmittags um fünf Uhr noch einmal wiedergekommen, berichten sie. Diesmal jedoch habe er nicht randaliert, sondern Futter gebracht für die brütende Störchin. Also gibt es doch Hoffnung? Vielleicht entsteht eine Art Patchwork-Storchenfamilie? Sie wissen es nicht. Einerseits sind die Glambecker mittlerweile alle zu Vogelexperten geworden. Andererseits haben sich inzwischen so viele offiziell und selbst ernannte Experten gemeldet, dass es schwer fällt, alle Storch-Informationen richtig einzuordnen.

Was sie wissen: Im Frühjahr kehren zuerst die männlichen Störche aus dem Süden zurück und suchen sich einen Horst. Oft nehmen sie den vom vorherigen Jahr, gern aber auch einen besseren. Erst danach kommen die Weibchen an, sie werden umworben. In Glambeck wurde der erste Storch am 22. April gesichtet, spät, wie manche Glambecker fanden, aber immerhin. Dann kam ein Weibchen dazu. Den dritten Storch beobachteten sie etwa am 10. Mai, als er mit dem Geklopfe begann. Er ist gut von den anderen zu unterscheiden, denn am Bein trägt er einen Ring. Und er hat ganz offensichtlich, keine „Frau“.

Die These vom einsamen Storch

Eine erste Erklärung für das Drama von Glambeck klang einleuchtend: Der dritte Storch sei partnerlos geblieben und versuche nun, nachträglich ein Nest zu erobern, indem er den ersten Storch mit seinem Gehabe vertreibe. Die Attacken auf Fenster und Autos, so die Mutmaßung, gelten seinem eigenen Spiegelbild, das er für einen Konkurrenten halte. Vom „hormongesteuerten“ Storch war die Rede, von „Eifersucht“, die ganze Geschichte klang bald eher nach Kino als nach Natur. Als ein Experte aus Westdeutschland riet, den Störenfried möglichst schnell wegzufangen, schritt der örtliche Storchbeauftragte ein. Und bat zunächst um verbale Abrüstung.

„Nennen Sie ihn nicht Terror-Storch“, bittet Paul Sömmer, der sich als ehrenamtlicher Storchbeauftragter des Nabu seit vielen Jahren um rund 60 Storchennester im Altkreis Gransee kümmert. Mithilfe von Fotos der Anwohner konnte er den „Problemstorch“ inzwischen identifizieren. Er trage einen Ring der Beringungszentrale Hiddensee und sei bisher nirgends als aggressiv aufgefallen, sagt Sömmer. Es klingt fast, als wolle er sagen: nicht vorbestraft. Doch der Experte bleibt sachlich. Man wisse, dass der Storch mit zwei verschiedenen Weibchen jeweils eine Brut völlig normal aufzogen habe.

Konkurrenzkämpfe unter Störchen kämen immer wieder vor, sagt Sömmer, allerdings dauerten sie meist nicht so lange. Auch Storch-Attacken auf Autos gab es in der Umgebung schon mehrfach, jedoch seien dies immer andere Tiere gewesen als der Glambecker Problemvogel. Bei Templin sei einmal ein Storch von Menschen aufgezogen worden, „einzeln, nicht in der Gruppe, er ist dann im Herbst nicht nach Süden abgeflogen“. Stattdessen habe der Vogel auf einem Parkplatz auf Autodächer eingehackt. Auch aus Mecklenburg-Vorpommern wurden ähnliche Fälle bekannt. Über den Glambecker Storch wisse man aber, dass er kein „Kindheitstrauma“ durch falsche Aufzucht habe, so Sömmer. Er sei normal in freier Natur aufgewachsen.

Vielleicht gibt es ganz andere Ursachen

Sömmer glaubt nicht an die Theorie, dass Störche in ihrem Spiegelbild einen Konkurrenten sehen. „Dafür ist das räumliche Sehvermögen von Störchen viel zu gut ausgeprägt.“ Und dass die Vogelbrut durch einen Konkurrenzkampf in Gefahr sei, wenn ein Storch vertrieben werde, hält er für unwahrscheinlich. „Ebenso, dass der beringte Storch tatsächlich auf das Nest geht und den anderen männlichen Storch vertreibt. Sömmer sagt: Man könne nicht genau erklären, was Störche zu Angriffen auf glänzende Fenster und Autos treibt.

Tatsächlich scheint auch niemand genau zu wissen, wie viele Störche sich nun überhaupt um die Glambecker Brut kümmern. Einer? Drei? Einige Anwohner meinen, auch den Problemstorch schon beim Füttern gesehen zu haben, andere sagen, es säße nur das Weibchen im Nest. Der nächste hat gleich drei erwachsene Störche beisammen im Nest gesehen. „Männliche und weibliche Störche sind schwer auseinanderzuhalten“, sagt der Storchbeauftragte. „Während ein Vogel brütet, sucht der andere Futter, beide Vogeleltern stünden oft nur sehr kurz zusammen auf dem Nest. Und Vogeljunge könnten theoretisch auch überleben, wenn sie nur von einem Vogel gefüttert würden. Problematisch sei dagegen die anhaltende Trockenheit, sagt der Naturschützer. Ohne Frösche, Regenwürmer oder wenigstens Mai- oder Junikäfer seien Storchenkinder tatsächlich in Gefahr. Das gelte jedoch für alle Störche im Kreis.

Die Sorge im Dorf hält dennoch weiter an. Vor allem, als sie am Abend unter dem Nest ein totes Storchenjunges finden. „Das kommt schon mal vor, es überleben selten alle Jungen“, versucht Christina Burchardt zu beruhigen, die erfahrene Storchennachbarin. Hilde Peltzer-Blase würde trotzdem gern handeln. „Am liebsten würde ich eine Hebebühne bestellen und ins Nest gucken, was da eigentlich los ist.“ Die resolute Rentnerin ist es gewohnt, Probleme effektiv zu lösen. Fördermittel für das denkmalgeschützte Spritzenhaus, ein neuer Spielplatz fürs Dorf, solche Herausforderungen regelt sie locker. Aber für Weißstörche gelten andere Gesetze als für Menschen.

Störche stehen unter Naturschutz

Das hat die Ortsvorsteherin bei der Unteren Naturschutzbehörde erfahren. Dort sieht man keinen Anlass zum Eingreifen. Störche stehen unter Naturschutz, sie dürfen werden gefangen noch anderweitig gestört werden. Revierkämpfe seien „essenzieller Bestandteil ihres Lebens“, teilt die Behörde auf Anfrage schriftlich mit. „Die Entnahme eines Storches würde den natürlichen Ausleseprozess beeinflussen.“ Punkt. Hilde Peltzer-Blase seufzt. „Wie es aussieht, wird uns das Storchendrama noch eine Weile begleiten.“

So versuchen sie, der Situation dennoch etwas Positives abzugewinnen. Welches Dorf hat schon die Ehre, ein berühmtes Problemtier zu beherbergen? Nach Problembär Bruno (Tirol/Bayern 2006), Problemkuh Yvonne (Bayern 2011) oder dem Problemkänguru, das diesen Winter in Werder ausbüxte, hat der Glambecker Storch gute Chancen, das Sommerloch 2016 zu füllen. Zumindest beschäftigt er inzwischen verschiedenste Behörden und Institutionen.

Storchattacken: Eher Wildschaden oder Naturgewalt?

Wie viele Leser reagierten auch die Experten des Gesamtverbandes der Versicherungswirtschaft zunächst fast belustigt auf die Frage, ob und wie man sich gegen Storch-Angriffe versichern kann. Sind die Vogel-Attacken Wildunfälle? Oder eher Naturgewalt? Die Experten teilten mit: Bei attackierten Terrassentüren und Fenstern kann eine Glasbruchversicherung helfen, zumindest bei Schäden am Glas selbst. Bei Autos kommt eine Vollkaskoversicherung auch für Storchschäden auf. Bei der Teilkasko ist es komplizierter. Sind im Vertrag nur Schäden durch „Haarwild“ enthalten, gibt es keinen Versicherungsschutz (ein Storch hat keine Haare). Sind „Wildunfälle mit Wirbeltieren“ erwähnt, ist die Lage besser – zumindest theoretisch, denn der Storch hat Wirbel. Allerdings gilt der Schutz nur, wenn sich das angegriffene Fahrzeug zur Tatzeit „in Bewegung“ befand. Um vier Uhr morgens ist zumindest in Glambeck jedoch nur einer in Bewegung: der Problemstorch.

Wer wissen will, wie das Storchendrama von Glambeck weitergeht, sagt Ortsvorsteherin Peltzer-Blase, ist eingeladen zum Dorffest am 16. Juli 2016. „Es findet ab 14 Uhr an der Kirche statt.“ Neben Kinderspiel und Chor ist auch ein Expertenvortrag zum Storch geplant. Und im Nest, hofft sie, müssten dann die Jungen so groß sein, dass man sie gut erkennen kann. Nur der Problemstorch wird nicht mit von der Partie sein. „Wer den sehen will, muss morgens um vier kommen.“