Potsdam . Zum Prozessauftakt um die Morde an Elias und Mohamed wollte sich der Angeklagte am Dienstag nicht zu den Vorwürfen äußern.

Es gibt kein typisches Verhalten für Angeklagte, denen die Tötung von Kindern vorgeworfen wird. Alles scheint möglich. Silvio S., der sich seit Dienstag vor einem Schwurgericht in Potsdam wegen Mordes an dem sechsjährigen Elias und dem vierjährigen Mohamed verantworten muss, wird im Verhandlungssaal fast den ganzen Prozesstag wie ein unbeteiligter Beobachter sitzen.

Schon als er um 10.25 Uhr in den Saal geführt wird, die Hände gefesselt, gibt es bei einigen Zuschauern so etwas wie Enttäuschung: Es erscheint nicht der erwartete hart wirkende Typ. Es kommt ein großer schlaksiger Mann, mit spärlichem Dreitagebart, Brille, strubbeligem Haar und einem Kapuzenshirt. Und man kann sich gut vorstellen, wie er auf einem klapprigen Fahrrad durch Friedrichshain radelt, um seiner Tätigkeit als Altenpfleger oder Erzieher nachzugehen.

Verteidiger wollten die Öffentlichkeit vom Prozess ausschließen

Er hat, so verstörend es klingen mag, im Gesicht etwas Freundliches, Sanftes. „Interessiert, entspannt, in sich ruhend“, beschreibt ihn Anwalt Andreas Schulz, der für Angehörige des kleinen Mohamed die Nebenklage vertritt. Neben Schulz sitzt Mohameds Mutter, eine zierliche Frau, die sich alles von einem Dolmetscher übersetzen lässt und ihm manchmal erregt ins Wort fällt, als könne sie sich kaum bändigen. Es ist ihr anzumerken, dass sie den Saal manchmal am liebsten durchqueren würde, um zu Silvio S. zu laufen – vielleicht, um ihn aus seiner selbstgefällig wirkenden Lethargie zu rütteln, um diese unbeteiligte, verletzende Fröhlichkeit aus seinem Gesicht zu bekommen.

Silvio S.’ Verteidiger beantragen gleich zu Beginn des Prozesses den Ausschluss der Öffentlichkeit. Tenor: Die Presse habe ihren Mandanten vorverurteilt. Schlimmeres sei nun nach diesem ersten Prozesstag zu erwarten. Auch die Beratung dieses Antrages soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt werden. Es beginnt ein zeitraubendes Prozedere. Die rund 50 Journalisten und Zuschauer müssen nach dem Verlassen des Saales jedes Mal erneut eine Sicherheitsschleuse passieren, um den wie in einem Terroristenprozess gesicherten Verhandlungssaal wieder betreten zu können.

Mohameds Mutter Aldiana Januzi am Dienstag im Potsdamer Landgericht.
Mohameds Mutter Aldiana Januzi am Dienstag im Potsdamer Landgericht. © dpa | John Macdougall

Um 11.45 Uhr wird von dem Schwurgericht dann aber entschieden, dass dem Antrag nicht stattgegeben wird. Das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Verfahren sei wichtiger als das Interesse des Angeklagten, Umstände aus seinem intimen Lebensbereich nicht öffentlich zur Sprache kommen zu lassen. Es sei ja ohnehin vieles schon veröffentlicht worden, sagt der Schwurgerichtsvorsitzende Theodor Horstkötter. Und er habe Vertrauen, dass sich die Presse an ihren Kodex halte.

Silvio S. bleibt ungerührt, als die Anklage verlesen wird

Silvio S. wirkt auch in diesem Moment sehr unaufgeregt. Und er bleibt es, als der Staatsanwalt Peter Petersen den Anklagesatz verliest. Vieles von dem grauenvollen Geschehen, das hier vorgetragen wird, kann nur vom Angeklagten selbst stammen: Wie er am 8. Juli vergangenen Jahres den kleinen Elias vom Spielplatz lockte und mit ihm in seinem Dacia wegfuhr. Gegen den Willen des Kindes, heißt es in dem Anklagesatz. Wie er dem Kind Schlafmittel gab, ihm eine Gesichtsmaske überstreifte und ihm einen Mundknebel aufzwang – einen Eisenring, der verhinderte, dass der Junge den Mund schließen konnte. Und als Elias dennoch nicht leise war, sondern weinte und klagende Geräusche von sich gab, soll ihn Silvio S. mit beiden Händen erwürgt haben.

Ähnliches geschah am 21./22. Oktober 2015. Staatsanwalt Petersen beschreibt, wie Silvio S. seinen Dacia in Moabit unweit des Geländes des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) parkte und sich dann zielgerichtet zu dem überfüllten Platz begab. In der Hand einen Plüschteddy. Und wie er wenig später den arglos herumtollenden Mohamed angelockt und mitgenommen haben soll zu seiner Wohnung im südbrandenburgischen Kaltenborn. Auch Mohamed soll von Silvio S. mit Schlafmitteln sediert worden sein. Das Kind hatte die Nacht vermutlich durchgeschlafen. Das wirkliche Grauen begann für ihn erst am nächsten Morgen.

Grausame Details werden verlesen

Es ist zu hoffen, dass der Dolmetscher Mohameds Mutter die Details nicht übersetzt, die von Staatsanwalt Petersen geschildert werden: Die Versuche des Angeklagten, den Jungen für seine sexuellen Zwecke gefügig zu machen, Praktiken, die sich der Angeklagte in Pornofilmen angeschaut haben soll, Mohameds hartnäckiger Widerstand, die Versuche, ihn zu zwingen, die Wut des Angeklagten, als es trotzdem nicht gelang, die Angst des Angeklagten, dass seine in der unteren Etage wohnenden Eltern etwas hören könnten. Und dann das grausame Ende: Auch Mohamed soll mit beiden Händen gewürgt worden sein. Als er scheinbar leblos auf dem Bett lag, soll sich Silvio S. in einem Nebenraum aufgehalten haben, um sich zu beruhigen. Und von dort aus habe er gehört, wie Mohamed plötzlich zu weinen und nach seiner Mutter zu schreien begonnen habe. Der Anklagte, so Staatsanwalt Petersen, habe dann einen mit Chloroform getränkten Lappen auf das Gesicht des bewusstlos werdenden Kindes gedrückt, habe ihm Hände und Füße mit Kabelbindern gefesselt und Mohamed anschließend mit einem Gürtel stranguliert. Diesmal sei das Kind wirklich gestorben.

Eine Gedenktafel für die ermordeten Kinder Elias und Mohamed in einer Kleingartenanlage in Luckenwalde (Brandenburg).
Eine Gedenktafel für die ermordeten Kinder Elias und Mohamed in einer Kleingartenanlage in Luckenwalde (Brandenburg). © dpa | Ralf Hirschberger

Nach Verlesen des Anklagesatzes ist es einige Sekunden beklemmend ruhig. Richter Horstkötter belehrt Silvio S., dass er sich jetzt äußern könne, dass er aber auch das Recht habe zu schweigen. Silvio S. will schweigen, zumindest an diesem ersten Verhandlungstag; er lässt auch offen, ob er im Laufe der Beweisaufnahme über seinen Werdegang reden werde. Er wirkt wieder sehr entspannt, als sein Verteidiger das vorträgt.

Kurz darauf erscheint die erste Zeugin. Es ist die Mutter des kleinen Elias. Das Schwurgericht will in zwei Blöcken verhandeln. Im ersten geht es um den Tod von Elias, im zweiten um den Tod von Mohamed.

Anita St. läuft an einer Krücke. Es wird nicht bekannt, woran die 26-Jährige leidet. Aber es wirkt, als habe sie der Schmerz auch körperlich erfasst. Sie ist von Beruf Übersetzerin, war in der Zeit, „als Elias verschwunden ist“, arbeitslos. Sie wird noch mehrmals „verschwunden“ sagen, als meide sie Wort „getötet“. Elias sei ein für sein Alter sehr kleiner Junge gewesen, sagt sie, „blond mit blauen Augen“. In der Schule hätten sie ihn manchmal gehänselt und „Knirps“ zu ihm gesagt. Sehr lebhaft sei er gewesen, fantasiebegabt, auch das Wort Wissbegier fällt. Ab und an habe er in seinem Überschwang auch andere, fremde Menschen angesprochen, wenn er etwas besonders toll fand.

„Die Wohnungstür hätte er niemals geöffnet“

Sie spricht sehr leise, erzählt, dass sie, der Sohn und der Lebensgefährte erst kurz bevor Elias verschwand in Potsdam Schlaatz in eine neue, größere Wohnung gezogen seien. Sie habe ihn morgens stets zur Schule gebracht und nachmittags wieder abgeholt. Auch sonst habe sie dem Jungen immer wieder klargemacht, vorsichtig zu sein. „Die Wohnungstür hätte er niemals geöffnet.“ Elias habe auch erst wenige Male allein auf dem Platz vor dem Wohnhaus spielen dürfen, „und auch nur so, dass ich ihn vom Fenster aus im Auge hatte“. So auch am 8. Juli. Gegen 18.30 Uhr wollte sie vor der Tür eine Zigarette rauchen. Da war er nicht mehr da. Sie und ihr Lebensgefährte hätten zunächst den Wohnblock abgelaufen. Als sie Elias nicht fanden, habe der Lebensgefährte Freunde angerufen und mit ihnen gemeinsam die Gegend abgesucht. Sie selbst habe zu Hause auf den Jungen gewartet. Um 19.11 Uhr habe sie bei der Polizei angerufen und Elias als vermisst gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt sei das noch nicht ernst genommen worden.

Es gibt Angeklagte, die wenden sich ab, wenn das Opfer oder Angehörige des Opfers vor Gericht aussagen; sie ducken sich nach unten, vergraben das Gesicht in den Armen, halten sich die Hand vor das Gesicht. Als Anita St. aussagt, blickt Silvio S. ungezwungen wirkend zu ihr herüber, manchmal atmet er tief, aber er schaut auch dann nicht weg. Das ändert sich, als nach Anita St. eine Körper¬psychotherapeutin aussagt. Zwischen ihr und dem Sechsjährigen habe sich sehr schnell ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Einmal habe er zu ihr gesagt: „Ich denke, wir sind Freunde.“ In diesem Moment lächelt Silvio S. nicht mehr, er tupft mit einem Taschentuch an seinem linken Auge. Ist es Selbstmitleid oder wirklich Mitleid? Der psychiatrische Sachverständige Matthias Lammel hat Silvio S. in einem vorläufigen Gutachten volle Schuldfähigkeit attestiert.