Hamburg. Die Zeiten, in denen Guildo Horn mit Nussecken warf und Lena auf Platz eins tanzte, sind vorbei. Ist Deutschland unbeliebt geworden?
Schon wieder der letzte Platz beim ESC? Aufschrei! Im Land ist eine aufgeregte Fehlerdiskussion entbrannt. „Deutschland ist unbeliebt geworden“, sagte eine Freundin am Sonnabendabend auf dem Spielbudenplatz enttäuscht. Ein junger Mann neben uns stimmte zu: „ Die wollten Deutschland einfach keine Punkte geben, da hätte Jamie Lee noch so gut sein können.“ Auch in den sozialen Netzwerken häuften sich kurz nach dem Finale Stimmen nach dem Motto: Warum hat uns keiner lieb? Die Zeiten, in denen Guildo Horn mit Nussecken warf und Lena auf Platz eins tanzte, sind vorbei.
Hamburg feiert ESC-Party im Regen
Der ESC war 2016 wieder mal für eine Überraschung gut. Gewonnen hat weder ein Gute-Laune-Stampfer noch Britpop noch Lasershow, sondern eine emotionale, dramatische Ballade über die gewaltsame Vertreibung der Krimtataren 1944, die nicht mal charttauglich ist. Ein Lied mit Ernst und einer Botschaft, quer zum vorherrschenden Performance-Pop. Jamala hat ihre Sache gut vertreten. Der ESC kann also doch politische Wirkung entfalten, wie man schon an den Reaktionen merkt: Während der ukrainische Präsident Petro Poroschenko Jamalas Sieg öffentlich bejubelt, behaupten kremltreue Politiker in Russland, der Westen habe in Stockholm einer „ ukrainischen Erpressung“ nachgegeben. Nach außen ist der ESC unpolitisch – aber „unterhalb der Leitungsebene weiß natürlich jeder und jede, dass der Wettbewerb ein Spiegelbild der europäischen Befindlichkeiten ist“, wie der ESC-Experte Jan Feddersen schreibt.
Der ESC steht für Goldregen, Blitzlichtgewitter und Kostümorgien
Eine Botschaft wie Jamala hatten die deutschen Beiträge der vergangenen Jahre nicht im Programm. Müssen sie auch nicht. Lenas Siegersong „Satellite“ 2010 in Oslo war ein einfaches Liebes-Trällerlied. Auch Russland, Frankreich, Schweden und Australien, die 2016 im ESC-Vorab-Ranking auf der Wettseite Oddchecker als Favoriten gehandelt wurden, traten nicht mit weltbewegenden Themen an. Der ESC steht für Windmaschinen, Goldregen, Blitzlichtgewitter, Glockenspiele, sympathische Newcomer, Drama-Queens, ABBA-Nachahmer, stille Country-Poeten, Schönlinge und Kostümorgien zwischen Bademodenkatalog und Vampirfilm (wie der polnische Teilnehmer Michał Szpak in seinem blutroten Frack). Dazwischen gibt es immer wieder Überraschungen und Publikumslieblinge, mal die finnischen Metalrocker Lordi, mal die drei italienischen Tenörchen „Il Volo“. Ein breites Spektrum. Woran liegt es also, dass Jamie Lees „Ghost“ darin völlig untergegangen ist?
Naja, schon die ESC-Vorgeschichte war deprimierend. Zuerst zerlegte sich Deutschland in der Debatte über Xavier Naidoo, dann setzte es auf einen Beitrag von gekonnter Harmlosigkeit. Unter den ESC-Teilnehmerländern wirkt Deutschland wie ein braves Kind aus saturiertem Elternhaus, das viel kann, aber keinen Biss hat und lieber alles richtig machen will. Ein Schelm, der dabei auch an die Rolle Deutschlands in der EU denkt. Mit der Disconummer „Wadde hadde dudde da“ zeigte Stefan Raab 2000 in Stockholm wenigstens, dass die Deutschen über sich selber lachen können. Und sogar Russland bewies mehr Experimentierfreude, etwa mit den singenden Babuschkas 2012 in Baku. Haben die Wagemutigen, Provokateurinnen und Verträumten schon bei unseren Vorentscheiden zu wenig Chancen? Sind wir schon zu weichgespült von den ewigen R&B-Performances der Castingshows, deren Teilnehmer/innen vor allem Stimme beweisen wollen, aber dabei wenig zu sagen haben?
Wir müssen uns wieder mehr trauen
Man sollte freilich vom ESC auch nicht zu viel erwarten. Zumindest das ist eine Verbesserung: Am Sonnabend wurden die Votes der Jurys und der Fans erstmals getrennt ausgewiesen - und offenbarten einen Riesenunterschied. Ein verlässliches Erfolgsrezept für den Wettbewerb kann es da nicht geben. Man kann nicht mal behaupten, dass die Sieger-Beiträge immer ein kollektives europäisches Bedürfnis spiegelten. Teil der europäischen Kultur zu sein heißt, sich in einem Gewirr verschiedenster Musiktraditionen, Stilrichtungen, Nationalempfindlichkeiten und Chart-Trends zu bewegen. Nächstes Jahr können die Prioritäten des Publikums wieder ganz woanders liegen. Da könnten wir uns doch mal was trauen!