Haltern. Zum ersten Jahrestag des Germanwings-Absturzes erzählen Hinterbliebene aus Haltern am See, wie die Katastrophe ihr Leben veränderte

Auf dem Berg liegt noch Schnee. Anke Venhoff schaut oft in die Webcam, die sie eingerichtet haben über Seyne-les-Alpes, sie kann dann sehen, wie das Wetter ist dort oben bei Aline. „Ich finde das sehr schön.“ In diesen Tagen ist sie wieder selbst dort, sie wollen hinaufsteigen zur Absturzstelle, ihr Mann Peter, der kleine Luis, 11, und der große Sohn Janik, hinauf zu der „Stelle, wo meine Schwester gestorben ist“, sagt der 19-Jährige. „Das macht es für mich besonders.“

Janik hat an jenem 24. März 2015, als die Germanwings-Maschine in den französischen Alpen abstürzte, gleich zwei Menschen verloren: seine Schwester Aline, so blond wie er. Und seine Cou­si­ne Helena, die Tochter seiner Tante. Die beiden sind zusammen aufgewachsen. Zusammen zur Schule gegangen in Haltern, der Stadt, die um 18 junge Menschen trauert. Sie waren zusammen beim Schulaustausch in Spanien. Und sie sind zusammen gestorben, Aline und Helena, sie wurden nur 16 Jahre alt.

Venhoffs haben Angst vor dem Jahrestag, nicht vor dem Ort. Sie fühlen sich Aline dort nah, alle Angehörigen erzählen das von diesem Platz in den Bergen, der so still ist, so friedlich, dass es, sagt Janik, „gar nicht zusammenpasst“. Ein Ort, schön und schrecklich zugleich, findet Anke Venhoff, 46. Aber sie fürchten die Kameras, die Busse, die Politiker, die vielleicht wieder den Vortritt bekommen. Sie wissen: Sie werden keine Zeit zum Trauern haben. „Ich fühle mich da eingepfercht“, sagt Janik.

Er fliegt diesmal allein, erst einen Tag später. Er hat noch eine Prüfung, Volkswirtschaftslehre, er ist jetzt im zweiten Semester an der Fachhochschule Gelsenkirchen. Das Studieren hilft, auch die andere Stadt, wo nicht jeder von Aline weiß, aber Janik kann sich nicht gut konzentrieren. Er schläft schlecht. „Das ist eine Zusatzlast, die ich trage“, sagt er. Er reist also nach, obwohl sie das nicht mögen, einer ohne die anderen. „Wenn etwas passiert…“, sagt Janik. Außerdem kann er es nicht haben, wenn seine Eltern alleine da sind.

Das letzte Foto stammt vom spanischen Strand

Die Familie ist noch wichtiger geworden für den 19-Jährigen. „Wir sind enger zusammengerückt, aber es fehlen die Mädchen. Wir sind nur noch Jungs“, sagt Janik. „Die beiden haben immer Stimmung gemacht. Sie haben der Familie Leben eingehaucht. Nun ist niemand mehr da, der kreativ ist, das fehlt total.“ Es ist so still im Haus. Und überall sind dort Dinge, die an Aline erinnern. In ihrem Zimmer, aber auch das Wohnzimmer, in jedem Winkel, atmet Aline. Fotos auf den Regalen, auf dem Tisch, Kerzen, Engel, überall Herzchen. Im Wintergarten stehen gleich drei Bilder: Aline mit Blumenkränzchen auf Sardinien, Alines Namenszug im Sand, Aline mit Cou­si­ne Helena, die zugleich ihre beste Freundin war. Und auf einem Bord dieses letzte Bild, das das Mädchen selbst geschickt hatte vom spanischen Strand: ein schmales, hellblondes Mädchen mit Sonnenbrille, zerbrechlich sieht es aus. „Unsere Püppi“ hat die Oma immer gesagt, und die Mama hat es mindestens gedacht. Ein paar von Alines Sachen haben sie wiederbekommen, schmutzig, zerrissen, aber ordentlich verpackt. Das Paket lag wochenlang unberührt in ihrem Zimmer, erst Heiligabend hat Anke Venhoff es ausgepackt, allein: das große Portemonnaie, fleckig, der Reißverschluss kaputt. Die Geldscheine darin, eingerissen. Die Krankenkassenkarte, zerbrochen in kleine Stückchen. „Ein Schock“, sagt die Mutter.

Das Handy hätten sie gern gehabt. Und wo ist die Kamera, „ihr ein und alles“, die sie immer mit sich herumtrug? Sie hoffen jetzt auf die Schneeschmelze. Der türkisfarbene Pullover aber kam, gereinigt und doch verdreckt. Anke Venhoff steckt die Nase in den Stoff. „Es riecht alles gleich.“ Nach Kerosin, nach Erde, sie hat sogar Tannennadeln gefunden. „Aline hatte alles mit, was ihr lieb war“ – das silberne Bettelarmband, das sie zur Kommunion bekam, muss noch irgendwo liegen da oben. Die roten Turnschuhe hat Anke Venhoff nicht angeklickt im Onlinekatalog der Fundstücke. „Sowas haben viele. Wir wollen nichts haben, wovon wir nicht sicher sind“, sagt Janik.

Sicher waren sie bei der Mütze. Ein blaues Baseballcap, auf der „Barcelona“ steht. Aline hatte sie für ihren Bruder gekauft, nun dreht er sie hilflos in der Hand: Ich würde sie tragen“, sagt er, aber sie ist zerdrückt, die Pappe von der Reinigung gewölbt. „Das ist nur ein Überrest, der bringt mir nichts mehr.“ Er weiß nicht, was er mit der Kappe tun soll, was mit dem ganzen Paket. „Ich kann die Sachen nicht wegräumen“, sagt Anke Venhoff, „wegwerfen auf keinen Fall.“ Also liegen sie in Alines Zimmer, wo alles noch so ist wie am Tag ihrer Abreise, bis heute.