Berlin. Ein Hinterbliebenen-Anwalt der Germanwings-Katastrophe kritisiert Versäumnisse der Mediziner

Vor fast einem Jahr brachte Copilot Andreas Lubitz willentlich eine Germanwings-Maschine in den französischen Alpen zum Absturz. 149 Menschen riss er mit in den Tod. Jetzt ermöglichen Dokumente aus den französischen Ermittlungsakten, die „Bild“ veröffentlichte, einen neuen Blick in die psychische Verfassung des Todespiloten. Die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die auf seiner Festplatte gefunden worden waren, zeichnen das Bild eines hochgradig gestörten Menschen.

Beeinflussen die Veröffentlichungen den Kampf der Hinterbliebenenanwälte um höhere Entschädigungen? Nachfrage bei Christof Wellens, dem Mönchengladbacher Anwalt, der zusammen mit seinem Berliner Kollegen Elmar Giemulla 71 Angehörige vertritt. „Natürlich waren mir die Aufzeichnungen aus den Akten bekannt“, sagt er. „Sie zeigen deutlich: Da hat jemand eine massive Persönlichkeitsstörung. Da sucht jemand 41 Ärzte auf, kriegt Psychopharmaka verschrieben. Da hat jemand Selbstmordgedanken. Es stellt sich schon die Frage: Wie konnte es sein, dass keine wirksamen Maßnahmen ergriffen wurden? Warum ist seinem Arbeitgeber nichts aufgefallen oder zu ihm durchgedrungen?“

Hatten die Psychiater und Ärzte denn die Möglichkeit dazu, die Diagnosen der Arbeitgeberin Lufthansa, Mutterkonzern von Germanwings, mitzuteilen? „Natürlich unterstanden sie der Schweigepflicht“, räumt Wellens ein. „Aber sie haben ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Offenbar haben sie Lubitz nicht mit der nötigen Vehemenz gedrängt, sich mit seinen Problemen seinem Arbeitgeber mitzuteilen und seine Arbeit niederzulegen. Besteht der Verdacht einer Fremd- oder Selbstgefährdung, gibt es außerdem die Möglichkeit einer psychiatrischen Unterbringung auch gegen den Willen des Patienten. Und eine Selbstmordabsicht hätte erkannt werden können.“ In den Aufzeichnungen, die Lubitz auf Anraten eines Therapeuten verfasste, finden sich Sätze, die einen Suizid als letzten Ausweg sehr konkret beschreiben. Offenbar verfügte Lubitz über die nötige Selbstreflexion, dass er für seinen Beruf nicht geeignet war: Er beschreibt seinen Berufstraum als geplatzt. Lubitz litt unter seinem Umzug aus dem heimatlichen Montabaur im Westerwald nach Bremen, wo er an der Verkehrsfliegerschule der Lufthansa seine Ausbildung startete. Am 5. November 2008 unterbrach Lubitz die Ausbildung, nachdem seine Arbeitgeberin vom Medizinischen Dienst der Lufthansa über die psychischen Probleme informiert worden war.

Doch im August 2009 bescheinigte der Medizinische Dienst: „Aus psychologisch-psychotherapeutischer Sicht kann der Patient seine berufliche Ausbildung fortsetzen.“ Ein weiterer Teil seiner Ausbildung fand in der Flugschule der Lufthansa im US-Bundesstaat Arizona statt. Für Wellens ist die Entscheidung, Lubitz dort weitermachen zu lassen, unverständlich: „Er kam schon mit dem Umzug innerhalb Deutschlands nicht zurecht.“ Wellens unterstützt daher eine Zivilklage von Hinterbliebenen gegen die Flugschule in Arizona.

Germanwings will nicht mit den US-Anwälten verhandeln

In den USA könnten bis zu 5 Millionen Euro pro Absturzopfer geltend gemacht werden. Bisher zahlte Germanwings ingesamt 11,2 Millionen Euro. Für die Anwälte zu wenig. Die Klage soll noch diesen Monat von einer US-Kanzlei eingereicht werden. „In den USA hätte man eingreifen müssen“, sagt Wellens. Inwiefern man in Arizona von den Problemen wusste, dazu will Germanwings sich nicht äußern.

„Wir werden keine Verhandlungen mit US-Anwälten führen, da weder amerikanisches Recht Anwendung findet noch sich ein Gerichtsstand in den USA begründen lässt“, sagte Germanwings dieser Zeitung. Eine Argumentation, der der Jurist nicht folgen kann: „Die Flugschule steht auf US-Boden. Welches Recht, wenn nicht das amerikanische, sollte da greifen?“ Welche Konsequenz zieht Germanwings aus der Tragödie? Unter anderem wolle man Auswahl und Ausbildung überarbeiten.