Dirk Hautkapp. „Jonas“ hat der US-Ostküste Schneemengen historischen Ausmaßes gebracht. Das öffentliche Leben kam zum Erliegen

Von „Jonas“ wird man noch in Jahren sprechen, sagt man in den USA. Von diesem Schneesturm historischen Ausmaßes, der an der US-Ostküste vielerorts das öffentliche Leben lahmgelegt hat. Der Millionenme­tropolen zu Geisterstädten machte.

Aus Sorge vor lebensbedrohlichen Situationen hatte New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio ein Fahrverbot verhängt und die Menschen bekniet, nur in absoluten Notfällen vor die Tür zu gehen. Eine weise Maßnahme. Der seit Freitag im gesamten Ostküstenkorridor von Richmond bis Boston wütende Blizzard hinterließ bis zu seinem Verschwinden in der Nacht zum Sonntag in New York Rekordschneehöhen von 68 Zentimeter und legte die Metropole komplett lahm. Keine U-Bahn, kein Flugverkehr, Restaurants und Theater geschlossen. „Begraben“ titelte die Boulevardzeitung „Daily News“ auf ihrer in Schneeweiß gehaltenen Seite 1. Bei strahlendem Sonnenschein begannen am Sonntag die „Ausgrabungsarbeiten“. Sie werden Tage dauern. Tauwetter ist nicht in Sicht.

Für die Hauptstadt Washington, die es während des 36 Stunden langen Schneetreibens am schlimmsten erwischte, errechnete ein Mathematiker das theoretische Arbeitsvolumen: Um das Stadtgebiet von der bis zu 90 Zentimeter hohen Schneedecke zu befreien, wären 13 Millionen Lkw-Fuhren nötig.

Alle sechs Stunden wuchsdie Schneedecke um 20 Zentimeter

Auch die Hauptstadt glich am Sonnabend einer Geisterstadt. Gespenstische Ruhe. Schulen und Geschäfte waren geschlossen, große Sportveranstaltungen abgesagt, der öffentliche Nahverkehr außer Betrieb. Passanten wurden von der Polizei abgepasst, freundlich ermahnt – und nach Hause geschickt. Auf den Ausfallstraßen übernahmen Militärfahrzeuge der Nationalgarde, die landesweit über 2000 Kräfte im Einsatz hatte, den Transport, da wo Krankenwagen und Feuerwehrtrucks kapitulieren mussten. Alle sechs Stunden wuchs die Schneedecke um 20 Zentimeter. „So ergiebig war schon Ewigkeiten kein Sturm mehr“, sagte Wetterexperte Jim Cantore. „Snowmageddon“, der letzte große Wirbel, der 2010 den damaligen NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) eine Woche in Washington im Hotel festsetzte, war mit 40 Zentimeter Schnee im Vergleich zu „Jonas“ beinahe Kinderkram.

Vom Geräusch Tausender Schneeschaufeln und Fräsen wachte das Machtzentrum der USA gestern erleichtert auf und war sich wie die Rentnerin Lisa Burke schnell einig: „Holy moly! Wir sind glimpflich davongekommen.“ Stellvertretend für viele Bürger lobte die 74-Jährige die Aufklärungskampagne der Stadt. Bürgermeisterin Muriel Bowser hatte bis zuletzt gewarnt: „Dieser Sturm kann tödlich sein. Leute, bleibt bitte zu Hause.“ In Baltimore und anderen Großstädten nahm man sich ein Beispiel. Auch dort gab es Fahrverbote.

Nach ersten Bilanzen hat der in sozialen Netzwerken „Snowzilla“ genannte Monstersturm nicht die befürchteten Riesenschäden an der anfälligen Infrastruktur angerichtet. Im von sechs Millionen Menschen bevölkerten Großraum Washington gab es nur „einige Hundert Stromausfälle“, berichteten regionale Energieversorger. Nicht nur an der Küste vor New Jersey, wo Schnee und eine durch den Vollmond begünstigte Sturmflut zusammenkamen, sah die Sache anders aus. Insgesamt saßen streckenweise 200.000 Haushalte im Dunkeln. 18 Tote, darunter mehrere Herzinfarktfälle bei Senioren nach Schneeschippen, meldete der TV-Sender CNN. Dazu gab es Tausende Autounfälle. Hunderte Reisende steckten in Kentucky auf der Autobahn zwölf Stunden lang in einem 60 Kilometer langen Stau fest. Die Flugaufsichtsbehörden meldeten fast 10.000 abgesagte Flüge an der Ostküste. „Erst ab Dienstag“, so ein Sprecher gegenüber der „Washington Post“, „wird der Betrieb wohl wieder annähernd normal laufen.“

Wie jedes Naturereignis in Amerika, über das in anderen Teilen der Welt kaum ein Wort verloren werden würde, hat auch „Jonas“ seine Helden. Dazu gehört ohne Zweifel der im Washingtoner Zoo beheimatete Pandabär Tian Tian. Seine Begeisterung, als er sich durch den Tiefschnee rollte, steckte via YouTube Millionen an. Nette Worte erntete auch der seit über 300 Tagen auf der Raumstation ISS ausharrende US-Astronaut Scott Kelly. Ihm zu verdanken sind atemberaubende Fotos, die den Sturm aus dem All zeigen.

Und dann wäre da noch Keith Howard. Seit 17 Jahren fährt er für die Verwaltung von Montgomery County vor den Toren Washingtons im Winter Räumfahrzeuge. Als er gestern Morgen unerwartet in Chevy Chase in eine im Schnee versunkene Nebenstraße einbog, zogen die Anwohner die Handschuhe aus – und klatschten Beifall.