Berlin. Den Hauptschulabschluss machte er mit 4,9. Jetzt studiert Yigit Muk BWL. Die Geschichte eines außergewöhnlichen jungen Mannes.

Sie sind zusammen in einer Gang gewesen, haben andere geschlagen, abgezogen, beleidigt. Jetzt lag der Freund auf dem Totenbett, Leukämie. Hunderte Menschen drängten sich in der kleinen Wohnung um ihn, viele weinten. „Das war der Moment, an dem ich zum Nachdenken gekommen bin“, sagt Yigit Muk.

Der 27-Jährige sitzt in einem roten Sessel in der Steglitzer Stadtbibliothek in Berlin, sein Gesicht ist ernst beim Erzählen. Vor dem Gespräch hatte er die anderen Leser gefragt, ob es sie stören würde, wenn nebenan geredet würde. Sie lächelten nur und schüttelten den Kopf. Yigit Muk ist ein Mensch, der mit seiner ruhigen, bestimmten Art sofort die Sympathien der anderen gewinnt. In dem Sessel sitzt ein Gewinner, einer, der 2012 das beste Abitur Deutschlands gemacht hat und heute im 5. Semester Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität (FU) Berlin studiert. Ein junger Mann, der gewählt, konzentriert und druckreif spricht.

Er will anderen Jugendlichen helfen

15 Jahre zuvor hatte derselbe Yigit Muk eine Gang gegründet, sich drei- bis viermal am Tag geprügelt und die Schule zunächst mit einem Hauptschulabschluss und einem Notenschnitt von 4,9 verlassen. Er wollte Spaß haben, irgendwie den Tag verbringen, Frauen belästigen, andere abziehen. Mit seinen Gewalttaten, so erzählt er, hätte er sich den Respekt der anderen verdient. Bis zu dem Tag, als er am Totenbett stand und über sein Leben nachdachte.

Ein Imam hielt eine Rede. Er sprach von dem kurzen Leben und dem Tod als ständigen Begleiter und appellierte in Richtung der jungen Menschen, mit sich im Reinen zu sein. „Behandelt eure Mitmenschen so, als müsstet ihr morgen sterben. Lernt und arbeitet so, als wäret ihr unsterblich“, sagt der Imam.

Yigit Muk hat die Worte nie vergessen, sie haben ihn getroffen und etwas in ihm berührt. Sein Leben mit all seinen Brüchen und Wandlungen hat der junge Mann jetzt aufgeschrieben. „Muksmäus­chenschlau“ heißt der Titel in Anspielung auf seinen Namen und ist im Bastei-Lübbe-Verlag erschienen. Am heutigen Freitag stellt er es um 18 Uhr in den Neukölln Arcaden vor. Yigit Muk will es allen sagen, was er nach Jahren der Irrungen verstanden hat: „Jeder hat es selbst in der Hand. In Deutschland hat jeder die Möglichkeit, alles aus sich zu machen, egal woher er kommt.“

In der Schule spielte er den Clown

Sein Vater kam mit seinen Eltern als Gastarbeiter in den 60er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Er war Hotelfachmann und arbeitete im Hotel „Schweizer Hof“. Zehn Jahre später heirateten seine Eltern, auch seine Mutter kam aus der Türkei nach Berlin. Die Familie fand eine Wohnung in Neukölln, Yigit war das dritte Kind. Eine jüngere Schwester starb noch als Baby. Von Anfang an lagen die Hoffnungen der Mutter auf ihrem jüngsten Sohn. Sie lebte für den Tag, an dem er sein Abiturzeugnis überreicht bekommen wird.

Bis zur Schule wuchs Yigit bei seiner Mutter zu Hause auf. Einen Kindergarten und eine Vorschule hat er nie besucht. Im Rückblick sieht er darin den ersten großen Fehler. „Es wäre gut gewesen, wenn ich schon vor der Schule Kontakt zu anderen Kindern gehabt hätte“, erzählt er.

Deutsch hatte er auf der Straße oder vor dem Fernseher gelernt. Er sprach schlechter als die anderen Kinder in seiner Klasse, in der es ohnehin nur zwei, drei deutsche Schüler gab. Sein Defizit wollte er als Klassenclown wieder wettmachen, er spielte den Entertainer, beleidigte die Lehrer, kippelte und fiel um – alles, um auf sich aufmerksam zu machen und die anderen zum Lachen zu bringen. Am Ende der sechsten Klasse verließ er die Grundschule mit einer Hauptschulempfehlung.

Die Mutter setzt sich für ihn ein

An dieser Stelle schaltete sich seine Mutter zum ersten Mal ein. Der Junge sollte an eine Oberschule, die bekannt war für ihre Unruhestifter. „Dort stand die Polizei vor der Tür und kontrollierte die Schüler auf Messer“, erzählt er. Für die Mutter sei klar gewesen, dass er dort total abrutschen würde. Obwohl sie ohne Erlaubnis ihres Mannes nicht die Wohnung verlassen durfte, machte sie sich auf den Weg zu einer anderen Oberschule, die sie für besser hielt. Sie ließ sich nicht eher wegschicken, bis sie den Platz auf der Realschule sicher hatte.

Das änderte jedoch nichts daran, dass Yigit Muk mit 13 Jahren eine Jugendgang in seiner Straße gründete. Sie waren erst 20, dann 40, später 100. Araber, Albaner, Serben, Afrikaner. Auch Deutsche, genannt Stecher-Andi und Nazi-Denis, machten mit. „Wenn jemand schief geguckt hat, haben wir ihm eine reingehauen“, erzählt Muk. Daraus hätten sie ihre Erfolgserlebnisse gezogen. Die Opfer hätten nur das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Oder ein zu schönes Handy zu besitzen. Einige Anzeigen hat ihm dieses Leben eingebracht. Vorbestraft sei er nicht, sagt er, aber soziale Stunden hätte er leisten müssen. Einmal musste er in einer Jugendherberge Fahrräder reparieren, ein anderes Mal war er bei einer Fußballmannschaft.

Nach dem Sommer, in dem der Freund aus der Gang starb, wurde alles anders. Die Worte des Imam hallten nach. Yigit war 16 Jahre und kam in die 9. Klasse. Am Ende des Schuljahres wurde er Jahrgangsbester. Doch dann schlug das Schicksal zu: Eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, der das Pfeiffersche Drüsenfieber hervorruft, fesselte ihn ans Bett. Die Fehlzeiten waren nicht mehr aufzuholen. Nach der zehnten Klasse hielt er den Hauptschulabschluss in der Hand.

Im Abitur endlich die richtige Motivation

Nach seiner Genesung erinnerte ihn seine Mutter an ihren großen Traum, und von da an startete er durch. Erweiterter Hauptschulabschluss, mittlerer Schulabschluss am Oberstufenzentrum und das Abitur an der Privaten Kant-Oberschule. Im Abitur habe er zum ersten Mal die richtige Ansprache von den Lehrern bekommen, sagt er. „Wir wurden als Elite bezeichnet, und dass wir alle schaffen könnten, was wir wollen.“ Die Worte, die Empathie hätten ihm eine Perspektive gegeben. Statt mit Gewalttaten begann er mit seinem Wissen zu prahlen und sich Respekt zu verschaffen. Einige der Jungs aus der Gang zogen mit, andere landeten im Gefängnis.

Heute sieht er das Problem in der fehlenden Bezugsperson. Mit der Gang wären Drogendealer und Schutzgelderpresser die Ansprechpartner gewesen. Erst im Abitur an der Kant-Oberschule hätte er die Lehrer als menschliche Wesen wahrgenommen und nicht als Maschinen. „Sie waren auf einmal Mitspieler, keine Gegenspieler“, sagt er. So wie Freunde, die er bei allen Problemen auch nachts anrufen durfte.

Mit sich selbt im Reinen bleiben

Sein Ehrgeiz war erwacht, er wollte als Bester die Abi-Rede halten und damit seiner Mutter den schönsten Tag im Leben bereiten. Sein Plan ging auf. Er wurde nicht nur der Beste der Schule, er gehörte zu den besten Abiturienten Deutschlands.

Yigit Muk hätte Medizin an der Charité oder in Heidelberg studieren können. Er hat sich für Betriebswirtschafslehre entschieden. Die Wirtschaftswissenschaften hätten ihn schon im Abitur fasziniert, sagt er. Er will nach Bachelor und Master promovieren und als Unternehmensberater arbeiten. Später könnte er sich vorstellen, ein soziales Unternehmen zu gründen. Sein großer Traum ist es aber, mit sich selbst im Reinen zu bleiben.