Lima/Berlin. Marcel Witte aus Berlin sitzt seit zwölf Jahren im Gefängnis. Im peruanischen Lima. Seine letzte Hoffnung ist die Bundesregierung.

Es ist zwölf Jahre her, dass Marcel Witte in einer Hähnchenbraterei in Lima saß - und plötzlich in viele Pistolen schaute. Seither würde er viel geben für den Geruch frischgebratener Hähnchenkeulen. Sehr viel. Zwölf Jahre ist er nun schon weggesperrt, weit weg von der Heimat in Berlin. Das Urteil: 20 Jahre. Dabei ging die Sache mit den 167 Kilo Kokain im Masten des Fahrgeschäfts Fliegender Teppich eigentlich auf das Konto seines Vaters.

Zu 20 Jahren Haft in Lima verurteilt: Marcel Witte aus Berlin sitzt nun schon seit zwölf Jahren in einem peruanischen Gefängnis.
Zu 20 Jahren Haft in Lima verurteilt: Marcel Witte aus Berlin sitzt nun schon seit zwölf Jahren in einem peruanischen Gefängnis. © dpa | Bettina Rehmann

Am 5. November jährt sich wieder der Tag, der das Leben des heute 35-Jährigen umstürzte. Die ersten Jahre mit Dutzenden Häftlingen in einer Zelle. Mehrfach schwer krank, fast gestorben. „Es ist schön, mal wieder Deutsch zu sprechen“, sagt er im Hof des Gefängnisses Sarita Colonia in Perus Hauptstadt. Er sieht gezeichnet aus.

Peruanische Behörden kommen Witte entgegen

Witte bittet um mehr politische Unterstützung, explizit lobt er das Entgegenkommen der peruanischen Seite: „Die Peruaner würden der Überstellung nach Deutschland im Prinzip zustimmen, es hängt an der Bundesregierung“. Bis hin zu Bundespräsident Joachim Gauck hat seine Mutter gekämpft. Er hat nach einem Peru-Besuch im März geschrieben, dass er den Fall angesprochen habe. „Frau Merkel antwortet nicht mal“, ist Pia Witte von der Kanzlerin mehr als enttäuscht.

Glaubt man Marcel Witte, ist er unschuldig hier. Er hat noch acht Jahre zu sitzen. Sein Vater hatte das Glück - wenn man so will - einen Herzinfarkt zur rechten Zeit zu bekommen, der eine Behandlung in Deutschland nötig machte. In der Zwischenzeit kam es zum Zugriff. Der Schmuggel auf dem Seeweg sollte 600 000 bis 700 000 Dollar bringen, Geld, dass die Wittes gebrauchen konnten. Denn die Idee eines Freizeitparks in Lima war gescheitert. Man wollte zurück nach Deutschland.

Drogenschmuggel im Fahrgeschäft

Versuchte sich einst mit dem Berliner Spreepark, verklinkert heute Häuser am Lexanderplatz: Norbert Witte, der Vater des in Lima inhaftierten Marcel Witte.
Versuchte sich einst mit dem Berliner Spreepark, verklinkert heute Häuser am Lexanderplatz: Norbert Witte, der Vater des in Lima inhaftierten Marcel Witte. © dpa | Georg Ismar

Marcel bekam Wind von den Kokain-Plänen. Er wollte sie verhindern, sagt er. Ihm wurde aber vor allem zum Verhängnis, dass er offiziell Geschäftsführer des Freizeitparks in Lima war, also haftbar für einen Drogenschmuggel in einem seiner Fahrgeschäfte. Ja, die Geschichte der Wittes ist beiliebe keine alltägliche. Es ist eine der schillerndsten deutschen Schaustellerdynastien, verfilmt im preisgekrönten Dokufilm „Achterbahn“. Marcels Schicksal verkommt dort fast zur Randnotiz, im Mittelpunkt steht sein charismatischer Vater Norbert, der heute am Berliner Alexanderplatz Häuser verklinkert. Es ist auch die Geschichte einer sehr tragischen Vater-Sohn-Beziehung.

Der Reihe nach. Bei einem Treffen im September am Alexanderplatz in Berlin erzählt Norbert Witte von seiner kleinen Tochter Isabel. Von Visionen wie einem Freizeitpark auf einem alten Kasernengelände in Königs Wusterhausen („Noch einmal so was wie der Spreepark.“). Fragen nach seinem Sohn weicht er aus. Der 60-Jährige raucht immer noch vier bis fünf Schachteln am Tag, so wie 2009 beim ersten Treffen, damals noch auf dem Gelände des Spreeparks in Berlin-Treptow inmitten des alten, quietschenden Riesenrades und der Dinosaurier-Attrappen.

Vater Witte und die Vision des Spreeparks

Selbst Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) posierte hier einst für Fotos. Die Dinos sind inzwischen von Vandalen zerstört worden. Bis 2016 will das Land Berlin aus dem derzeit vor sich hingammelnden geschichtsträchtigen Areal im Wald einen Natur- und Erlebnispark für die Bürger machen, aber keinen Vergnügungspark. Wittes Vision nach der Wende: Er wollte den an der Spree gelegenen Park zum attraktivsten Rummelplatz des wiedervereinigten Deutschlands machen. Unter dem Namen Plänterwald war der Park schon zu DDR-Zeiten eine Institution.

Doch Witte scheiterte, es gab zu wenig Parkplätze, Ärger mit Behörden und Banken. Insolvenz. Nicht der erste schwere Schlag. 1981 schlitzte auf dem Hamburger Volksfest, dem „Dom“, Wittes Kran Gondeln der benachbarten Skylab-Bahn auf, sieben Menschen starben.

Schwieriges Vater-Sohn-Verhältnis

Nach der Spreepark-Pleite geht es 2002 mit einigen Karussells nach Lima. „Spreepark-Witte abgehauen. Uns lässt er nur das rostige Riesenrad“, titelten die Zeitungen. Die Karussells hängen monatelang im Zoll fest, Frau und Töchter gehen bald zurück. Der 21 Jahre alte Sohn Marcel managt den Freizeitpark im Stadtteil Los Olivos. Und seinen Angaben zufolge ist Vater Norbert mal weg, mal betrunken, mal gewalttätig. Und taucht immer öfter mit zwielichtigen Zeitgenossen auf. „Grüßen Sie meinen Sohn“, sagt der Vater zum Abschied am „Alex“.

Es dauert etwas, bis in Lima ein Taxifahrer gefunden ist, der zum Gefängnis Sarita Colonia im bitterarmen Vorort Callao fahren will. Einer, der abwinkt, deutet mit dem Finger eine durchgeschnittene Kehle an. Will heißen: zu gefährlich. Über lehmige Pisten geht es, die Straßen gesäumt von Müll, Hunde streunen umher. Die Polizisten filzen den Besucher, der Pass wird abgenommen, dafür gibt es eine Marke. Gürtel aus, die Nummer 896 wird mit schwarzem Edding auf den Arm geschrieben, dann die Nummer 368, ein Stempel mit einem lachenden Gesicht folgt, und ein Stempel der peruanischen Gefängnisbehörde.

Polizei schaut im Knast gerne weg

Nach einer letzten Schleuse geht es durch eine Tür. Hier ist keine Polizei mehr, nur ein paar verurteilte Mörder und Drogenhändler, die den Besucher mustern. Es ist in Lateinamerika Usus, dass sich die Polizei innerhalb der Knastmauern weitgehend raushält. Und bei Konflikten zwischen Insassen gerne wegschaut. Wo ist Marcel Witte?

„Marcelo! Marcelo! Visita.“ Hinten in einem kleinen Hof sitzt er, kommt entgegen, ganz nach dem Vater. Der gleiche melancholische Blick. Kräftige Statur, schwarze Slipper, dunkelgrüne Hose, grauer Schlabberpulli, die Haare kurz geschoren. Er holt zwei weiße Plastikstühle, nebendran stemmt ein Häftling auf einer Streckbank Gewichte. Die meterhohen Mauern sind gekrönt mit Nato-Stacheldraht.

Der Flughafen mit den Flugzeugen, die ihn zurück nach Berlin bringen könnten, ist nur fünf Kilometer entfernt. Man kann sie immer wieder hören. Alle sind sie in dieser Geschichte wie bei einer Achterbahn aus der Kurve geflogen, aber keiner so schlimm wie Marcel. Wobei seine Geschichte eher mit einem anderen Karussell verknüpft ist, dem Fliegenden Teppich. „Der Junge hatte keine Ahnung, das ist allein meine Schuld“, hatte Norbert Witte schon 2009 gesagt. Damals überwies er ab und an Geld und rief an, heute haben sie keinen Kontakt mehr.

Sohn will nichts mehr vom Vater wissen

„Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben“, sagt Marcel in dem Hof. „Seine Versionen sind immer speziell.“ Zwar bekam der Vater wegen des geplanten Drogenschmuggels auch noch ein paar Jahre Gefängnis in Deutschland, aber 2008 war er wieder draußen. Klar und strukturiert berichtet Marcel Witte von der Zeit 2002/2003. „Die Phase, als es ums Überleben ging, ist mein Vater abgehauen.“ Er sei mit einem komischen Kauz aufgetaucht. Marcel muss jetzt lachen. „Der hat immer geredet wie so ein Pascha mit 20 Ölfeldern.“

Irgendwann hat Marcel genug, packt seine Sachen. „Ich komm heim“, sagt er der Mutter. Der Vater bittet ihn zu bleiben. „Das war neu, statt Schlägen sagte er auf einmal, er braucht mich.“ Auf so ein Signal hat Marcel lange gewartet, er packt die Tasche wieder aus.

Der Fliegende Teppich ist danach aber immer öfter kaputt, er wird ausrangiert. Irgendwer muss dann angefangen haben, das Kokain einzuschweißen. Es folgt der Herzinfarkt, der Vater habe ihm noch vor der Abreise gesagt: „Je weniger du weißt, desto besser“. Marcel will das Kokain rausholen, sagt er. Man habe ihn mit Gewalt daran gehindert. Mehrere „Kumpels“ des Vaters seien involviert gewesen.

„Habe gelernt, mich wie ein Fisch im Wasser zu bewegen“

Ausgerechnet einer dieser Bekannten lockt ihn unter einem Vorwand in die Hähnchenbräterei. Er hat sehr intensiv die Akten studiert und denkt heute: Der angebliche Freund des Vaters lieferte ihn bewusst ans Messer, um mit der Polizei wegen einer anderen Strafsache einen Deal zu machen. Um seine Haut zu retten. „Der hat doch sogar das meiste des Kokains selbst besorgt“, sagt Marcel in Sarita Colonia.

„Ich habe gelernt, mich hier wie ein Fisch im Wasser zu bewegen“, erzählt er über die Zeit im Gefängnis. Gewalt, Schlägereien aus dem Weg gehen. Er bekommt 120 Euro Sozialhilfe von der Botschaft, von Seife und Toilettenpapier angefangen, muss man hier alles selbst kaufen. Seine Mutter, die mit ihrem Mann wegen Lima gebrochen hat, hat lange Hartz IV bezogen, sie kann sich eine Reise nach Peru kaum leisten. „Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn, dass er so stark ist“, sagt Pia Witte, die in Berlin lebt. Selbst wenn er in Deutschland noch einmal ins Gefängnis müsste: „Hauptsache, er ist wieder hier.“

Hoffnung auf eine Überstellung nach Deutschland macht eine Reform des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG). Ein Problem war bisher, dass Deutschland eine Umsetzung des Urteils schon theoretisch nicht anbieten kann, da so ein Fall hier höchstens mit 15 Jahren bestraft werden dürfte. Grob gesagt, müsste abgestimmt werden, welche Strafe Witte in Deutschland noch zu verbüßen hätte.

Grünes Licht für eine Überstellung nach Deutschland

Wahrscheinlich nur ein paar symbolische Monate. Das zuständige peruanische Gericht hat bereits prinzipiell grünes Licht für eine Überstellung gegeben - am Ende müsste auch noch Präsident Ollanta Humala seinen Segen geben. Beim Auswärtigen Amt wird betont: Der Fall ist bekannt. „Die deutsche Botschaft in Lima betreut den deutschen Staatsangehörigen konsularisch und steht mit den Angehörigen, dem Rechtsanwalt und den peruanischen Behörden in engem Kontakt.“

Aber eine rasche Lösung? Marcel Witte wartet und wartet auf den Tag X. Mitunter kann er nach draußen telefonieren und Internet-Zugang bekommen. Aber jüngst hat die Polizei Störsender eingebaut. Er hat schon länger eine peruanische Freundin - gerade an Wochenenden kommen viele Besucher und können sich drinnen frei bewegen. Sie war vorher mit einem anderen Häftling zusammen. Sie ist wie er 35 und hat in so jungem Alter bereits schweren Brustkrebs. „Das kam auch noch dazu“, sagt er. Sie haben einen sechsjährigen Sohn. Witte wäre gern mehr für ihn da, als sein Vater es für ihn war, sagt er zum Abschied. „Aber jetzt habe ich einen Sohn, der auch keinen Vater hat.“