Ilulissat. Auf Grönland werden Verurteilte nicht weggesperrt. Statt Strafe steht Integration im Vordergrund

Das Strafvollzugswesen Grönlands unterscheidet sich markant vom Rest Europas. Denn auf der größten Insel der Welt im Nordatlantik gibt es keine Gefängnisse mit Mauern; Stacheldraht und Wachtürmen. Selbst verurteilte Mörder und Vergewaltiger kommen in den offenen Vollzug und genießen tagsüber ihre Freiheit.

In der malerischen westgrönländischen Stadt Ilulissat am arktischen Meer mit seinen majestätischen, in der Sonne glitzernden Eisbergen, liegt eine dieser Anlagen. In einem einstöckigen, roten Häuschen mit weißen Leisten, mitten im 4600 Einwohner zählenden Ort, wohnen 28 Straftäter. Die große Mehrheit hier hat schwere Verbrechen verübt. Nach der offenen Anstalt in der Hauptstadt Nuuk mit 66 Bewohnern ist dies die zweitgrößte des Landes. Insgesamt gibt es sechs offene Anstalten mit insgesamt 155 Plätzen.

In jeder dieser Unterbringung leben Männer und Frauen, die für schwere Körperverletzung verurteilt worden sind, für Vergewaltigung bis hin zu Mord. Die Wohnanlage in Ilulissat erinnert mit den hellen, ein wenig abgenutzten, Räumen an ein Jugendheim. Es gibt Aufenthalts- und Aktivitätszimmer, eine gemeinsame Küche. Hier erinnern nur die an Ketten festgemachten Küchenmesser daran, wo man ist. Gefängniswärter sind nicht bewaffnet.

Um den Alltag so gut wie möglich zu kopieren, müssen die Verurteilten für ihre Mahlzeiten selbst sorgen. Sie gehen zum Einkaufen ins Dorf, halten einen Plausch mit dem Lebensmittelhändler. Wenn Fleisch auf den Teller soll, machen sie sich bereit für die Jagd. Wenn alle Zutaten zusammen sind, binden sie sich die Schürze um und richten das Mittagessen her.

Hinter Schloss und Riegel kommen die Straftäter erst am Abend, ab 21.30 Uhr werden die Türen verschlossen, doch schon frühmorgens ist der Spuk vorbei. Einige der Insassen gehen dann zur Arbeit. Wer vorher Beschäftigung hatte, verliert seine Anstellung meist nicht, selbst wenn er einen Mord auf dem Gewissen hat. Andere gehen spazieren oder nach Hause, zur Familie. Am Eingang liegt eine Liste aus, in die sich die Schwerverbrecher eintragen müssen, mehr ist nicht nötig.

Ungaaq Paulisen ist eine der weiblichen Insassen. Sie hat keine Arbeit, aber täglich rauszugehen, ist ihr wichtig. „Dass Leute mich noch immer anlächeln und grüßen, das erlebe ich als Wertschätzung.“ Paulisen ist inhaftiert, weil sie ihre kleine Tochter geschlagen und bedroht hat. Reumütig sagt sie: „Ich habe die Besinnung verloren und sie gepackt. Plötzlich hatte ich ein Messer in der Hand. Ich weiß nicht mehr, was dann passierte. Danach ging ich einfach aus dem Haus.“ Paulisen wurde zu sechs Monaten Unterbringung in der Anstalt verurteilt.

Oft ist Alkohol im Spiel in Grönland. Vorsätzliche Körperverletzungen und Ermordungen sind selten. In erster Instanz sprechen grönländische Laienrichter Urteile aus. Sie kennen die Menschen und Verhältnisse vor Ort ganz genau. Immer wieder gewichten sie den Nutzen der Angeklagten für die Dorfgemeinschaft und ihr Potenzial zur Läuterung und Reintegration höher als das Verbrechen selbst.

Vor 1976 gab es überhaupt keine Strafanstalten auf Grönland. Wenn jemand ein Verbrechen begangen hatte, und sei es noch so ernst, wurde er mit einem erfahrenen, viel Respekt genießenden Fischer, hinaus aufs Meer geschickt, um eine Art Therapie zu erhalten und irgendwie zurechtgerückt zu werden. Strafen im westlichen Sinne wie das Einsperren, waren den einstigen Nomaden fremd. Auch heute noch dreht sich in der einstigen Jägergesellschaft alles um Mobilität.

Wiedereingliederung statt Bestrafung lautet die Devise

Beim ersten Versuch der Gestaltung eines Strafwesens unter dänischer Hoheit 1954 wurden die alten Traditionen der Urbevölkerung stark berücksichtigt. Dabei ging es darum, die Täter wieder in die Gemeinschaft einzubinden, auch weil in den kleinen dezentralen Gemeinden oft jede Arbeitskraft benötigt wurde. Einsperren ist zudem auf der nur 50.000 Einwohner zählenden Rieseninsel, in denen die meisten Ortschaften völlig isoliert liegen, kaum nötig. Fluchtversuche gibt es so gut wie keine. Die Menschen sind oft arm. Geld für Reisen haben sie nicht.

Grönlands Strafvollzugdirektor Hans Jörgen Engbo hat zuvor 40 Jahre im dänischen Strafvollzug gearbeitet. „Wenn die in Dänemark fragen, ob unsere Strafen wirken, antworte ich ‚ja das tun sie für uns hier‘“, sagt Engbo nicht ohne Stolz. Doch gab es bei den Inuit in Grönland einst auch die Todesstrafe für Personen, von denen keine Besserung erwartet werden konnte. Die wurden früher einfach raus aufs Eis gejagt, wo sie erfroren. Diese harten Fälle seien die Ausnahmen und würden in dänische Gefängnisse überstellt. Etwa 30 Menschen sitzen dort ein. Sie so weit weg unterzubringen, gilt aber als Verletzung der Menschenrechte.