Überlebende des Massakers vom 22. Juli besuchen erstmals wieder die Insel. Norwegen beendet seine dreitägige Nationaltrauer

Sundvollen. Einige sitzen auf den Klippen am Strand in der Sonne, andere stehen knietief im Wasser. Ein Mädchen deutet einen Kopfsprung an: Es zeigt seinen Angehörigen, wie es vor vier Wochen vor einem Massenmörder flüchtete. Die Jugendlichen, die an diesem Sonnabend erstmals wieder auf die Fjordinsel Utøya zurückkehren, haben ein Massaker überlebt. 69 ihrer Freunde starben, eiskalt erschossen von einem rechtsradikalen Attentäter, weil sie sich politisch engagierten, hinzu kommen acht Opfer des Bombenanschlags in Oslo, wenige Stunden zuvor. Und doch stehen manche der Überlebenden dieser Tage schon wieder am Wahlkampfstand, engagieren sich für die anstehende Kommunalwahlen am 12. September. "Jetzt erst recht", scheint die Losung zu sein.

Gut vier Wochen nach dem Massaker von Utøya hält Norwegen an diesem Wochenende noch einmal vereint inne. Am Ort des Massakers zünden die Überlebenden Kerzen an, legen Blumen und Karten an den Stellen nieder, wo ihre Freunde starben. Das letzte der insgesamt 77 Opfer wurde erst diesen Donnerstag beerdigt. Die Bootsfahrt zur Insel werde das Schwierigste für viele Jugendliche sein, sagte der Chef der Gesundheitsbehörde, Bjørn-Inge Larsen vorab. Aber sie sollten erleben, "dass Utøya kein gefährlicher Ort ist".

"Eigentlich hatte ich beschlossen, nie wieder zurückzukommen", sagt Jorid Nordmelan. Dann setzt sich das Mädchen mit dem gelben Rock doch in eines der Boote. "Jetzt bin ich froh, dass ich es gemacht habe", erzählt es hinterher. Es habe gutgetan, die Blumen an den Leichenfundorten zu sehen. Jeder habe Respekt für den anderen gezeigt.

Auch Rakel Birkeli, 17, war auf Utøya. Sie zeigt ihrer Mutter, wie sie in Todesangst über die Insel lief. "Mama war überrascht, wie wenig Verstecke es auf Utøya gibt", erzählt sie. Am Montag beginnt das neue Schuljahr. Ob sie den ersten Tag durchhält, weiß Rakel nicht. Es vergehe kein Tag, an dem sie nicht an den 22. Juli denke, sagt sie. "Für mich war es ein ,wake-up-call', ich weiß Dinge mehr zu schätzen. Ich habe unglaubliches Glück gehabt."

Die Rückkehr auf die Insel könne für den Trauerprozess extrem wichtig, aber auch belastend sein, sagt die Jugendpsychiaterin Grete Dyb, die Hinterbliebene bei ihrem Besuch auf der Insel betreut. "Wer Zweifel hat herzukommen, sollte es nicht tun", rät sie. Später werde es weitere Gelegenheiten geben. Ob die Rückkehr an den Ort, wo sie um ihr Leben bangten, den Überlebenden wehtue oder helfe, sei schwer einzuschätzen. "Wir hoffen, es hilft langfristig." Nicht die Rückkehr zur Insel, sondern die Rückkehr ins Leben dürfte für die meisten Jugendlichen die größte Herausforderung sein. "Sie müssen wieder in die Schule, treffen Freunde, die dieses Leid nicht mit ihnen geteilt haben, es nicht verstehen", so Dyb. Umso wichtiger sei es nun, noch einmal mit Gleichgesinnten zu sprechen.

Viele der Überlebenden kämpfen noch mit dem Alltag. "Ich lobe mich selbst, wenn ich etwas Normales getan habe", sagte die 18-jährige Ingrid Endrerud der Zeitung "Dagsavisen". Sie hat, wie viele ihrer Freunde, das weiß-rote Armband mit der "Utøya"-Aufschrift nie abgenommen. Der Wahlkampf sorge wenigstens jeden Tag für ein Ziel, sagt eine Freundin. "Es ist gut, etwas zu tun zu haben." Dass sie ihr politisches Engagement nicht aufgeben, ist für viele Überlebende auch eine Art Therapie. Auch Prableen Kaur ist bereits wieder voll im Wahlkampf. "Unsere Antwort muss eine noch stärkere Demokratie sein. Darum hoffen wir, dass die Leute ihr Stimmrecht gebrauchen", schreibt das Mädchen mit dem markanten Sikh-Turban in seinem Blog. "Offenheit soll unsere Gesellschaft weiter kennzeichnen." Doch dieser Wahlkampf soll anders werden. "Wir hoffen, dass die Zeit bis zur Wahl von Würde geprägt ist."

Es sei gut, dass sich viele Jugendliche weiter engagierten, sagt auch Dyb. Doch sie warnt: "Sie müssen aufpassen, dass sie sich nicht verausgaben, nicht zu viel von sich verlangen. Sie haben gerade nicht so viel Kraft wie sonst."

Den Abschluss der dreitägigen Nationaltrauer bildet schließlich am Sonntag der Trauergottesdienst in der mit Kerzenlicht erleuchteten Oslo-Spektrum-Arena. Ministerpräsident Jens Stoltenberg nimmt teil, das Kronprinzenpaar Haakon und Mette-Marit, Kronprinzessin Victoria von Schweden, Kronprinz Frederik von Dänemark und die Präsidenten von Island und Finnland, auch Überlebende und Vertreter der Rettungskräfte sind unter den rund 6700 Gästen. "Als Vater, Großvater und Ehemann kann ich Ihren Schmerz nur erahnen", sagt Norwegens König Harald V. in der im Halbdunkel liegenden Halle. "Als König dieses Landes fühle ich mit jedem von Ihnen."