Passagiere erzählen von Panik an Bord und Chaos auf der brennenden Fähre „Norman Atlantic“. Warum dauerte die Rettung 36 Stunden? In Italien weckt das Unglück Erinnerungen an die „Costa Concordia“

Ein Mann im Schlafanzug und in eine Decke gewickelt humpelt Schritt für Schritt die Treppe des Containerschiffes hinunter. Die Anstrengungen der letzten Stunden stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Ein Junge klammert sich an einen Mann. Einige weinen vor Erleichterung. Zumindest für diese Geretteten hat der Albtraum auf der Adria-Fähre „Norman Atlantic“ ein Ende, als sie von einem Containerschiff im Hafen von Bari gehen konnten. Dutzende andere hingegen sitzen auch am Montag noch auf der Adria-Fähre vor der albanischen Küste fest. Bis zum späten Abend steigt die Zahl der Toten auf zehn, wie die italienische Küstenwache mitteilt.

Per Hubschrauber werden die Menschen in einem zähen Countdown aus der Hölle auf hoher See befreit. Details über die Zustände an Bord kommen ans Licht.

Passagiere erzählen von dem Chaos, nachdem am Sonntag vor der griechischen Insel Korfu ein Feuer ausgebrochen war. „Man hat uns keine Anweisung gegeben. Es gab nur einen einzigen Notausgang auf Deck 6 in Richtung Bug. Es herrschte dort absolute Panik wegen des Gedränges. Es gab keinerlei Koordination, niemand hat die Leute beruhigt“, sagte die Passagierin Rania Fyreou im griechischen Fernsehen. An Deck seien Regen und Hagel auf sie niedergeprasselt, an Bord herrsche Panik, sagten Passagiere griechischen Medien telefonisch.

„Wir stehen draußen, uns ist sehr kalt, und das Schiff ist voller Rauch“, meldete Fahrgast Giorgos Stiliaras dem TV-Sender Greek Mega. Später wurden die frierenden Menschen zumindest mit Isodecken versorgt. „Das größte Rettungsboot für 150 Menschen war mit nur 60 Leuten besetzt. Das Personal war praktisch nicht vorhanden.“ Zudem sei das Schiff der griechischen Linie Anek Lines in letzter Minute ausgewechselt worden. „Wir hätten eigentlich mit einem anderen Schiff fahren sollen. Wir fühlten uns, als ob wir auf einem Schiff aus der Dritten Welt reisen sollten.“ Andere erzählen von ihrer Verzweiflung. „Mein Mann und ich sind mehr als vier Stunden im Wasser gewesen. Ich wollte ihn retten, habe es aber nicht geschafft. Er sagte: ,Wir sterben, wir sterben‘“, erzählte die Frau eines Todesopfers, Teodora Douli. Ein Elfjähriger liegt im Krankenhaus von Copertino in Süditalien und wartet auf Nachrichten von seinem Vater. „Geht es Papa gut? Wo ist er? Wann holt er mich ab?“, fragte Marco Journalisten.

Die meisten Probleme bereitete den Helfern das Wetter. Bei meterhohen Wellen kann kein anderes Schiff an die „Norman Atlantic“ anlegen und die Menschen von Bord holen. Zu groß wäre das Risiko, dass beide Schiffe einen folgenschweren Schaden davontragen. Der griechische Schifffahrtsexperte Giorgos Margetis sagte, bei dem Unfall seien mehrere unglückliche Umstände zusammengekommen. „Zunächst das Feuer, das sich ausgesprochen schnell ausgebreitet hat. Feuer ist das Schlimmste, was auf einem Schiff passieren kann. Dazu hatten wir extrem schlechtes Wetter, bis Windstärke zehn. Das passiert auf unseren Meeren vielleicht zwei-, dreimal im Jahr.“

Für Hubschrauber ist das eine Riesenherausforderung. „Die Flammen zu überfliegen ist keine leichte Sache“, sagte der Ex-General der italienischen Luftwaffe, Vincenzo Camporini. „Zudem macht es die Sache noch komplizierter, wenn sich so viele Institutionen koordinieren müssen.“

Medien spekulierten über Abstimmungsprobleme zwischen den Ländern. So soll Griechenland favorisiert haben, dass die „Norman Atlantic“ ins nähere Albanien geschleppt werde. Doch dies sollen die Italiener, die das Kommando bei der Operation haben, nicht unterstützt haben. Bei der Abschleppaktion riss ein Tau und hielt die Retter weiter auf.

Was an Bord wirklich geschehen ist, wird sich erst noch zeigen. Die Staatsanwaltschaften in Bari und Brindisi leiteten Ermittlungen wegen fahrlässigen Schiffbruchs und fahrlässiger Tötung ein. Geprüft werden müssen auch Vorwürfe, wonach bei der „Norman Atlantic“ Mängel festgestellt worden waren und dass das Autodeck überfüllt war. Die Reederei erklärte, mit den Behörden zu kooperieren. Das Schiff habe alle Zertifikate gehabt und sei fahrtüchtig gewesen. Bei einer Inspektion am 19. Dezember waren leichtere Mängel moniert worden.

In Italien wecken die Schilderungen Erinnerungen an die Havarie der „Costa Concordia“ im Januar vor drei Jahren. Damals fuhr der Kreuzer mit 4200 Menschen auf einen Felsen vor der Insel Giglio an der Küste bei Grosseto, 32 Menschen starben. Dem Kapitän Francesco Schettino wird derzeit der Prozess gemacht. „So etwas überwindet man nie“, sagt Chiara Castello, Opfer der „Concordia“-Katastrophe, der Zeitung „La Repubblica“. „Ich denke an die Armen auf dem Schiff. Diese Tragödie wird sie ein Leben lang begleiten.“

Am Montagnachmittag, 36 Stunden nach dem Beginn der Rettungsaktion, geht der Kapitän als Letzter von Bord. Er habe die Kontrolle italienischen Marine-Offizieren übergeben, teilte die italienische Küstenwache mit. Ursprünglich waren wohl insgesamt 478 Menschen – 56 Besatzungsmitglieder und 422 Passagiere – auf der Unglücksfähre, als der Brand vor der griechischen Insel Korfu am Sonntag früh ausgebrochen war.

Die Fähre der griechischen Anek Lines liegt noch vor der albanischen Küste. Schon in der Nacht hatten Retter die Menschen mit Hubschraubern von Bord der qualmenden Fähre gebracht. Wind, Dunkelheit und Kälte erschwerten die Operation. 427 Menschen seien gerettet worden, darunter die 56 Besatzungsmitglieder, sagte der italienische Transportminister Maurizio Lupi. Über den Verbleib Dutzender weiterer Menschen herrschte bis Montagabend allerdings Unklarheit.

Die meisten Passagiere wurden per Hubschrauber geholt und zu den in der Nähe wartenden Schiffen gebracht. Neun von ihnen – darunter drei Kinder und eine Schwangere – wurden direkt in eine Klinik im süditalienischen Lecce transportiert. Dort wurden sie wegen Unterkühlung behandelt.

Die meisten Passagiere waren Griechen. Die anderen Passagiere – meist Urlauber und Lkw-Fahrer – stammten aus Deutschland, der Türkei, Albanien, Italien, der Schweiz, Belgien und Frankreich.

Unter den Passagieren waren auch 18 Deutsche. Zwei von ihnen kamen am Montag mit einem Containerschiff im Hafen von Bari an. Den beiden aus Saarbrücken und Berlin gehe es soweit gut, sie sollten nun nach Deutschland zurückgebracht werden, sagte eine Mitarbeiterin des deutschen Konsulats in Bari. Das Containerschiff „Spirit of Piraeus“, das zur Hamburger Rickmers-Gruppe gehört, lief mit 49 Geretteten am Morgen in Bari ein (siehe Extratext links unten). Ein weiteres Schiff mit 69 Geretteten kam am Montagabend im westgriechischen Hafen Igoumenitsa an.

Zehn Handelsschiffe bilden eine Mauer, um die Fähre zu schützen

Ein Augenzeuge erzählte, er habe Leichen gesehen. „Ich habe vier tote Personen gesehen, mit meinen eigenen Augen, ich bin sicher. Sie waren vor mir“, zitierte die Agentur Ansa einen Passagier. Andere berichteten von Schlägereien an Bord. Und wieder andere erhoben schwere Vorwürfe gegen die Besatzung. „Eigentlich hätten wir mit einem anderen Schiff fahren sollen. Wir haben das erst im Hafen gemerkt. Als wir es gesehen haben, ist uns etwas mulmig geworden“, sagte Rania Fyreou im griechischen Fernsehen. „Auf dem Schiff gab es keinerlei Koordination. Das Personal war praktisch nicht vorhanden.“

Nach griechischen Angaben waren zehn Handelsschiffe an der Rettungsaktion beteiligt. Sie bildeten eine Mauer, um die Fähre vor dem Sturm zu schützen. Griechische und italienische Hubschrauber kämpften gegen heftige Böen an. Laut der italienischen Küstenwache konnten nach 16 Stunden immerhin die aus dem Schiff dringenden, sichtbaren Flammen gelöscht werden.

Über die Ursache des Brandes, der vermutlich im Autodeck ausgebrochen war, wurde weiter spekuliert. Lkw-Fahrer berichteten in griechischen Medien, dass das Fahrzeugdeck überladen gewesen sei. Viele Laster hätten Olivenöl geladen. Ein Funke könne da schnell einen Brand auslösen.