Fahndung in Niedersachsen: Ein Schwerverbrecher aus der Sicherungsverwahrung missbrauchte auf einem Freigang ein 13 Jahre altes Mädchen. Er ist immer noch auf der Flucht.

Hannover. Der aus der Sicherungsverwahrung im emsländischen Lingen geflohene Sextäter wird mit einem internationalen Haftbefehl gesucht. Es gebe eine Vielzahl von Hinweisen auf den 51-Jährigen, jedoch noch keine konkrete Spur, sagte ein Polizeisprecher am Donnerstag in Lingen. „Der wird in ganz Deutschland gesehen“, sagte der Sprecher.

Als junger Mann hatte er bereits ein Kind missbraucht, kurz darauf einen Menschen getötet und später zwei weitere Sexualverbrechen und andere Gewalttaten begangen. Doch dem in der Sicherungsverwahrung im Emsland weggesperrten Schwerverbrecher, der 17 Einträge im Strafregister hat, stellten Gutachter dennoch eine gute Prognose aus.

Fast 200 unbegleitete Ausgänge ohne Probleme gaben ihnen zunächst recht, jetzt aber kam der Schock: Auf einem Freigang soll Reinhard R., 51, ein 13 Jahre altes Mädchen missbraucht haben. Er ist auf der Flucht. Hat die reformierte Sicherungsverwahrung versagt? Wie ist es um das System von Lockerungen und Begutachtungen durch Psychologen bestellt?

Die niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne) gerät unter Druck: Erst drei Tage nach der Flucht hat das Ministerium am Dienstag die Öffentlichkeit vor dem Gewalttäter gewarnt. Die Ministerin verwies am Mittwoch in Hannover darauf, Staatsanwaltschaft und Polizei hätten sich am Sonnabend nach Bekanntwerden des Missbrauchs dafür entschieden, den Mann mit Zielfahndern zu fassen. Durch eine öffentliche Fahndung wäre er gewarnt gewesen.

Niewisch-Lennartz will nun aber auch prüfen, ob die Entscheidungen der Fachleute richtig waren, dem Gewalttäter die mehr als 300 erst begleiteten und dann auch unbegleiteten Freigänge – zuletzt meist über mehrere Tage – zu gewähren: „Wir werden die konkreten Umstände des Falles im Bereich des Vollzuges der Sicherungsverwahrung genau analysieren“, sagte die Ministerin, die auf einen schnellen Fahndungserfolg der Polizei hofft.

„Das ist eine schwere Prognoseentscheidung, die wir den Gutachtern da abverlangen“, sagte sie zur Arbeit der Experten, die die Lockerungen im konkreten Fall gerade erst für angemessen erklärt hatten. „Herauszufinden, wann lügt jemand, wann lügt er nicht, das ist eine der größten Herausforderungen der Gutachter. Ein bestimmtes Vertrauen in den Täter muss da sein, um Ausgang zu genehmigen.“

Gerade um die Gefahr von Fehleinschätzungen zu verringern, hatte Niedersachsen vor sechs Jahren ein zentrales Prognosezentrum in Hannover geschaffen. In der Justizvollzugsanstalt arbeiten Psychologen im Team, um Risikoeinschätzungen bei Sexualstraftätern nach der Entlassung abzugeben oder zu möglichen Lockerungen Stellung zu nehmen. Das Aktenstudium und Gespräche mit den Häftlingen bestimmen die Arbeit. Auch der Häftling aus dem Gefängnis Lingen wurde dort begutachtet.

Grundvoraussetzung für Lockerungen ist die Auseinandersetzung mit der Tat

Ermittlungsakten, Gutachten aus dem Gerichtsprozess sowie die Gefangenenakte spielen eine Rolle. Im Mittelpunkt der Gespräche stehen die Vorgeschichte der Tat sowie die Rolle von Familie und Partnerschaften. Auch werden Persönlichkeitsfragebögen eingesetzt, um zu sehen, wie die Täter sich selbst beschreiben. Darauf, dass Häftlinge sich verstellen oder täuschen, um mit einer günstigen Prognose schneller in Freiheit zu kommen, sind die Experten vorbereitet. Sie besprechen sich in Fallkonferenzen. „Das ist eine Wahrscheinlichkeitsvoraussage, unter welchen Bedingungen ein Mensch wieder vor die Türe gehen kann“, sagte eine Psychologin vor Kurzem.

Dem populistischen Ruf nach einem vorsorglichen Wegsperren für immer in der Sicherungsverwahrung kann die Justiz spätestens nach Urteilen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowie des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2011 nicht mehr entsprechen. „Die Sicherungsverwahrung ist so auszurichten, dass eine Chance besteht, wieder herauszukommen“, erklärte die Justizministerin. Der flüchtige Gewalttäter habe zu diesem Zweck in der Therapie auch an speziellen Sitzungen für Sexualtäter teilgenommen. „Eine Grundvoraussetzung für Lockerungen ist, dass jemand bereit ist, sich kritisch mit der Tat und sich selbst auseinanderzusetzen.“

In diesem Fall ohne Erfolg. Das Mädchen wurde Opfer.