Der Münchner hatte rund 1500 von Nazis beschlagnahmte Gemälde von Chagall, Matisse, Nolde, Picasso und anderen berühmten Künstlern gehortet.

München. Bei der Beschlagnahme des spektakulären Kunstschatzes in München sind möglicherweise nicht alle Kunstwerke entdeckt worden. In der Wohnung eines 80-jährigen Münchners hatten Zollfahnder etwa 1500 bisher verschollene Gemälde von Meistern der Klassischen Moderne entdeckt und beschlagnahmt – darunter wertvolle Werke von Pablo Picasso, Henri Matisse, Marc Chagall, Emil Nolde, Franz Marc, Max Beckmann oder Max Liebermann.

Wie das Nachrichtenmagazin „Focus“ berichtet, sollen die Nationalsozialisten die Werke von jüdischen Sammlern geraubt oder als „entartete“ Kunst beschlagnahmt haben. Die zuständige Staatsanwaltschaft Augsburg äußert sich dazu nicht.

Die Fahnder aus München sollen bereits im Frühjahr 2011 in der Wohnung des Mannes fündig geworden sein. Wenige Monate zuvor sei dieser dem Zoll bei einer Bargeldkontrolle während einer Zugfahrt von der Schweiz nach München aufgefallen. Mit dieser Kontrolle kam ein Stein ins Rollen.

Möglicherweise nicht alle Kunstwerke entdeckt

Im Spätsommer 2011 habe der Besitzer das Gemälde „Löwenbändiger“ von Max Beckmann zur Auktion abgegeben, bestätigte das Kölner Kunsthaus Lempertz am Montag einen Bericht des „Focus“. Dabei fanden die Experten heraus, dass es aus dem Nachlass des legendären jüdischen Kunstsammlers Alfred Flechtheim stammte. Nach einer Einigung mit den Erben Flechtheims sei der „Löwenbändiger“ daraufhin für 864.000 Euro mit Aufschlag versteigert worden.

Die beschlagnahmten Gemälde befinden sich den Angaben zufolge inzwischen in einem Sicherheitstrakt des bayerischen Zolls in Garching bei München. Eine Berliner Kunsthistorikerin versuche, die Herkunft und den materiellen Wert der einzelnen Werke zu ermitteln.

Der Vater soll gesagt haben, die Werke seien im Krieg in Dresden verbrannt

Der „Focus“ gibt den Wert der entdeckten Sammlung mit rund einer Milliarde Euro an. Den Untersuchungen zufolge lägen für mindestens 200 der gefundenen Werke offizielle Suchmeldungen vor, 300 gehörten zu den Objekten der „entarteten“ Kunst.

Der Rentner, Spross einer berühmten Kunsthändlerdynastie, lebte in München. Laut Bericht des Magazins hatte der Vater des 80-Jährigen die Gemälde in den 30er- und 40er-Jahren aufgekauft.

Nach dem Krieg soll der Vater behauptet haben, die Meisterwerke seien nach einem Bombenangriff in seiner Dresdener Wohnung verbrannt. Tatsächlich jedoch hütete sein Sohn den einzigartigen Kunstschatz. Dem Bericht nach ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung.

Seit mehr als 50 Jahren hortete der Mann die Meisterwerke in seinem Schwabinger Apartment – in verdunkelten, vermüllten Zimmern, in denen selbst geschreinerte Regale standen. Zwischen Bergen von vergammelten Lebensmitteln und jahrzehntealten Konservendosen fanden die Fahnder eine unvorstellbare Menge an Drucken, Radierungen, Stichen und Gemälden. Darunter auch verloren geglaubte Bilder von Emil Nolde und ein verschollener Dürer.

Im Laufe der Jahre habe der Mann einzelne Bilder verkauft und von dem Erlös gelebt. Leere Rahmen und diverse Dokumente belegten dies. Als die Fahnder die Wohnung in einer mehrtägigen Aktion leer räumten und die Kunstwerke abtransportierten, habe der Mann keinen Widerstand geleistet. Die Mühe hätten sich die Fahnder sparen können, er würde doch ohnehin bald sterben, soll er gesagt haben.

Staaten haben sich zur Rückgabe verpflichtet, private Sammler nicht

Eines der beschlagnahmten Matisse-Gemälde soll dem jüdischen Kunstsammler Paul Rosenberg gehört haben. Er musste vor seiner Flucht aus Paris seine Kunstsammlung zurücklassen. Rosenberg ist Großvater der französischen Journalistin Anne Sinclair. Sinclair, die seit Jahren um die Rückgabe der von den Nazis gestohlenen Gemälde kämpft, hat laut „Focus“ bisher von dem Matisse-Bild nichts gewusst.

Warum sind Jahrzehnte nach Kriegsende noch immer so viele Kunstwerke jüdischer Sammler verschollen?

Sabine Rudolph, eine auf NS-Raubkunst spezialisierte Anwältin aus Dresden, nennt Gründe dafür in einem Gespräch mit „Zeit Online“. Gegenüber privaten Sammlern könne man sich nicht auf die Washingtoner Erklärung berufen. In ihr hatten sich zahlreiche Staaten dazu verpflichtet, NS-Raubkunst an die Erben der Besitzer zurückzugeben. Außerdem gibt es dazu eine gemeinsame Erklärung von Bund, Ländern und Kommunen.

Die Juristin: „Obwohl private Sammler ausdrücklich aufgefordert werden, sich den Grundsätzen anzuschließen, kenne ich keinen Fall, in dem das passiert ist. Ich suche etwa mit den Erben des jüdischen Sammlers Victor von Klemperer noch immer nach dem Gemälde ,Kohlfeld im Wannseegarten nach Westen‘ (1917) von Max Liebermann, das zuletzt 2005 beim Auktionshaus Grisebach in Berlin versteigert wurde. Grisebach verweigert uns bis heute die Auskunft des Käufernamens. Letztlich müsste durch einen Gerichtsentscheid geklärt werden, welche Recherchen Auktionshäuser, Kunsthändler oder Kunstkäufer mindestens anstellen müssen, damit sie sich auf Gutgläubigkeit berufen können.

Auf die Frage, ob denn die Auktionshäuser und Kunsthändler gut mit ihr zusammenarbeiten würden bei der Suche nach verschollenen Kunstwerken, sagt Rudolph: „Die meisten Auktionshäuser geben ungern Auskünfte zu Einlieferern oder Käufern. Einige wenige melden sich inzwischen jedoch auch von sich aus bei mir, wenn bei ihnen Bilder mit unklarer Provenienz auftauchen. Diese Häuser scheinen jetzt gut arbeitende Provenienzabteilungen zu haben.“

Die Expertin glaubt, dass noch „Unmengen von Kunstwerken verschollen sind“. Ein Großteil der bisher nicht aufgespürten NS-Raubkunst vermutet sie „in privaten Händen“.