Die Suche nach noch lebenden NS-Verbrechern ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Nazi-Jäger in Ludwigsburg wollen fast 40 mutmaßlichen Auschwitz-Schergen den Prozess machen. Einer lebt in Sachsen.

Ludwigsburg/Dresden. Knapp 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg soll auch ein 91-Jähriger Mann aus Sachsen als mutmaßlicher Nazi-Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden. Der Mann lebe im Einzugsbereich der Staatsanwaltschaft Chemnitz, sagte der Leiter der NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg (Baden-Württemberg), Kurt Schrimm, am Dienstag.

Dem Mann werde wie 29 weiteren aus ganz Deutschland Beihilfe zum Mord im Konzentrationslager Auschwitz vorgeworfen. Nach ihren Vorermittlungen werde die Fahndungsstelle die Verfahren an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgeben, die dann entscheiden müssten, ob sie Anklage erheben wollen, sagte Schrimm.

Die Beschuldigten sollen sich im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben. Dort sollen 1,3 Millionen Menschen getötet worden sein, darunter mindestens 1,1 Millionen Juden. Die neuen Untersuchungen der NS-Fahndungsstelle waren nach dem Urteil gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk in Gang gekommen. 2011 hatte das Landgericht München Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen schuldig gesprochen und zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Neben den 30 Beschuldigten, die in Deutschland wohnen, haben die Ermittler sieben weitere mutmaßliche NS-Verbrecher identifiziert, die im Ausland leben, darunter einer in Israel. Der Aufenthalt von zwei weiteren Beschuldigten konnte noch nicht genauer ermittelt werden. Weitere mutmaßliche NS-Verbrecher, die die Nazi-Jäger seit dem Demjanjuk-Urteil im Visier hatten, sind mittlerweile gestorben.

Ob es zur Anklage komme, hänge von der Einschätzung der Staatsanwaltschaften, der Beweislage und dem Gesundheitszustand der Beschuldigten ab, erläuterte Schrimm. Der älteste Beschuldigte wurde im Jahr 1916 geboren, der jüngste im Jahr 1926. Schrimm warnte aber vor überzogenen Erwartungen. „Es kann sein, dass einige Wenige übrigbleiben.“ Er sprach angesichts des Alters der Beschuldigten von einem Wettlauf gegen die Zeit. Die Zentralstelle habe unabhängig von dem Gesundheitszustand der Beschuldigten ermittelt. Ob jemand verhandlungsunfähig sei, müsse die Staatsanwaltschaft klären.

Bisher blieben viele mutmaßliche NS-Täter straffrei, weil der Bundesgerichtshof 1969 im Fall Auschwitz festgelegt hatte, dass für eine Verurteilung der Wächter wegen Beihilfe zum Mord die individuelle Schuld nachgewiesen werden muss. Dies war vielfach nicht möglich.

In den Vorermittlungen für den Prozess gegen Demjanjuk, Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, hat aber die NS-Fahndungsstelle die Beihilfe zum Mord im KZ Auschwitz neu definiert. Dem widersprachen Staatsanwaltschaft und Landgericht München nicht. Nach Schrimms Auffassung ist somit jeder belangbar, der in einem KZ dazu beigetragen hat, dass die Tötungsmaschinerie funktionierte – egal ob direkt als Aufseher bei den Gaskammern oder indirekt etwa als Koch.

Wie Schrimm ausführte, werden neben dem Fall in Sachsen sechs weitere an die Staatsanwaltschaften in Baden-Württemberg übergeben. Sieben Fälle werden dann in Bayern anhängig sein. Auf Sachsen-Anhalt entfallen zwei Fälle, auf Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen jeweils vier Fälle, auf Hessen zwei. In Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern gibt es jeweils einen Fall.

Bei den Beschuldigten, die im Ausland leben, sollen die Verfahren dem Bundesgerichtshof vorgelegt werden, der den Gerichtsstand bestimmen soll. Neben Israel sind die Kroatien, Österreich, Brasilien, die USA, Polen und Argentinien betroffen.

Das Wiesenthal-Zentrum in Israel äußerte sich „tief befriedigt“. „Die heutige Ankündigung stellt einen Meilenstein bei den Bemühungen dar, Nazi-Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen“, schrieb Efraim Zuroff, Direktor der israelischen Abteilung des Zentrums, in einer in Israel veröffentlichten Erklärung. Zuroff beklagte aber zugleich, dass die Verbrechen schon viel früher hätten angeklagt werden müssen. Viele Mörder seien deshalb während der vergangenen 50 Jahre straffrei ausgegangen.