Bis heute sorgt der Fall des Mädchens, das vor 30 Jahren spurlos aus dem Kirchenstaat verschwand, für Aufsehen. Es gibt zahlreiche Theorien. Ihr Bruder hofft, dass sie noch lebt.

Rom. Erpressung, Mafia-Verwicklungen oder ein Zusammenhang mit dem Papst-Attentat – um das rätselhafte Verschwinden der damals 15-jährigen Emanuela Orlandi aus dem Vatikan ranken sich viele Gerüchte. Bis heute schlägt ihr Fall hohe Wellen. Vor 30 Jahren, am 22. Juni 1983, kam das Mädchen nach der Musikschule nicht zurück nach Hause. Emanuela war die damals jüngste Bürgerin des Vatikanstaates, ihr Vater Ercole Orlandi Hofdiener des Papstes, weshalb ihr Verschwinden großes Aufsehen erregte.

Sogar Papst Johannes Paul II. appellierte an die mutmaßlichen Entführer, das Kind freizulassen. Zunächst hieß es, Emanuela sei gekidnappt und ermordet worden – doch Beweise für ihr Schicksal gibt es bis heute nicht. Andere Zeugen hatten behauptet, das junge Mädchen sei freiwillig untergetaucht und lebe noch. Ihr rätselhaftes Verschwinden brachte im Laufe der Jahre die wildesten Spekulationen zutage, die aber auch keine Klarheit brachten.

Anfangs gingen die Ermittler von einem Zusammenhang mit dem Attentat auf Papst Johannes Paul II. 1981 aus. In anonymen Anrufen und Briefen war kurz nach Emanuelas Verschwinden gefordert worden, den Attentäter Ali Agca im Austausch freizulassen. Agca hatte Johannes Paul II. 1981 bei einem Mordanschlag auf dem Petersplatz schwer verletzt. Zu einem Austausch kam es allerdings nicht – wer hinter den anonymen Anrufen und Briefen steckte, wurde nie geklärt.

Auch der für den Agca-Prozess zuständige Richter Ilario Martella hält einen Zusammenhang mit dem Attentat für wahrscheinlich. „Ich denke, dass man mit Sicherheit sagen kann, dass beide Verbrechen von einer gut vernetzten kriminellen Organisation verübt wurden, die mehrmals mit Nachrichten und Mitteilungen auf sich aufmerksam gemacht hat, um den Tausch der Freiheit von Emanuela und der von Agca zu fordern“, sagte er vor Kurzem der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“.

Einer weiteren Spur gingen die Ermittler 2012 nach. 15 Jahre nachdem die Akte geschlossen worden war, nahmen sie sich wieder des Falls an und öffneten das Grab des „Renatino“ genannten Mafiosos Enrico De Pedis in der Basilika Sant'Apollinaire in Rom. Zuvor war spekuliert worden, Emanuela sei ermordet und mit dem Mafioso zusammen bestattet worden.

De Pedis' Ex-Freundin hatte ausgesagt, die Drahtzieher der Entführung säßen im Vatikan – was der Kirchenstaat als „infam und unbegründet“ zurückwies. Ein früheres Mitglied der Magliana-Bande von De Pedis behauptete, die Vatikanbank sollte mit der Entführung der Vatikan-Bürgerin Emanuela gezwungen werden, Geld zurückzugeben, das die Mafia dort investiert hatte.

Bevor der Vatikan 2012 der Öffnung des Grabes zustimmte, hatten Emanuelas älterer Bruder Pietro Orlandi und andere Freunde und Bekannte der Familie mehrmals dafür demonstriert. „Emanuela ist entführt worden, nicht weil sie Emanuela Orlandi war, sondern weil sie Bürgerin des Vatikans war“, sagte er. Doch auch diese Spur verlief im Sande, in dem Sarg lagen nur die Gebeine des Mafioso, und die Hoffnung der Familie auf eine Aufklärung zerschlug sich erneut.

Kurz darauf sorgte eine neue Vermutung für Aufsehen. Der Chef-Exorzist der katholischen Kirche, Gabriele Amorth, behauptete gegenüber der Tageszeitung „La Stampa“, Emanuela sei von Gendarmen der Vatikanpolizei für Sexpartys vermittelt und später ermordet worden. In dem Kirchenstaat habe es fragwürdige Feste gegeben, an denen auch ein Gendarm der Vatikanpolizei als „Mädchen-Rekrutierer“ beteiligt gewesen sei. Er gehe davon aus, dass Emanuela in diesem Umfeld gelandet sei und dass man deshalb innerhalb des Vatikans suchen müsse, nicht außerhalb, sagte Amorth.

Emanuelas Vater starb bereits 2004 nach jahrelangem vergeblichen Bangen und Hoffen an einem Herzleiden. „Er ist in der Hoffnung gestorben, dass seine Tochter noch am Leben ist“, sagte sein Anwalt damals. Emanuelas Bruder Pietro kämpft noch immer darum, seine Schwester, die heute 45 Jahre alt wäre, zu finden und ihr Schicksal aufzuklären: „Es ist ein Akt der Liebe gegenüber meiner Schwester, die Unrecht erlitten hat: Sie haben ihr nicht erlaubt, ihr Leben zu leben.“