James „Whitey“ Bulger war einst der meistgesuchte Verbrecher. Heute ist er 83

New York. Der Mann hat etwas von einer Legende, und in dem Oscar-gekrönten Film „Departed – Unter Feinden“ von Martin Scorsese hat Jack Nicholson ihn quasi schon verewigt. Von diesem Dienstag an steht James „Whitey“ Bulger in Boston vor Gericht. Er wird der Bandenkriminalität und des 19-fachen Mordes beschuldigt.

Als Bulger im Sommer vor zwei Jahren mit seiner Freundin in Santa Monica in Kalifornien verhaftet wurde, war das beinahe eine Enttäuschung. Der Mann sah aus wie ein Rentner: weißer Bart, Haarkranz um die Glatze, klarer Blick. Er leistete bei seiner Festnahme keinen Widerstand. Allerdings war er damals auch schon 81 Jahre alt. 16 Jahre davon hatte er auf der Flucht verbracht, zwölf Jahre lang galt er als der meistgesuchte Verbrecher überhaupt. Er wurde nur deshalb gefasst, weil eine Frau aus Island ihn auf der Straße erkannt hatte. Zwei Millionen Dollar bekam sie als Belohnung.

Bulger war im Süden von Boston aufgewachsen, zu einer Zeit, als die Gegend noch nicht als schick galt, sondern arm, irisch und katholisch war. Schon als junger Dieb zeigte er jene Charaktereigenschaften, die dann sein Leben bestimmen sollten: Neigung zur Gewalt – und hohe Intelligenz. Bei seinem ersten Mord allerdings traf er den Falschen. Anfang der 70er-Jahre – da hatte Bulger schon mehrere Gefängnisjahre hinter sich, unter anderem auf der Inselfestung Alcatraz – beschloss er als Mitglied einer irischen Verbrecherbande, ein Mitglied einer gegnerischen Gang zu erschießen. Bulgar schoss auch, traf aber wegen einer Verwechslung den Bruder des ausgesuchten Opfers, der völlig unbescholten war. Bulger fuhr sofort zu seinem Gangsterboss, aber der beruhigte ihn: Der Getötete habe geraucht, er wäre über kurz oder lang sowieso an Lungenkrebs gestorben.

Danach stieg Whitey Bulger zum Chef der kriminellen Unterwelt von South Boston auf. Wer unter ihm nicht spurte, bekam nicht etwa eine Abreibung, sondern wurde auf der Stelle umgebracht. Bulger und seine Bande erpressten Geld, tätigten illegale Geschäfte als Buchmacher und Kredithaie, raubten ganze Lkw-Ladungen. Ihre Gewalttaten richteten sich indes nicht gegen Unbeteiligte, sondern gegen andere Verbrecher. Sie verkauften zum Beispiel nie Drogen auf den Straßen von Boston, stattdessen pressten sie aus den Rauschgifthändlern einen Teil ihrer Gewinne heraus und sorgten dafür, dass nur „saubere“ Drogen unter die Leute kamen. Heroin war strikt verboten; ebenso wäre es eine todeswürdige Sünde gewesen, Drogen an Schulkinder zu verkaufen. Ein Buchmacher, der sich angemaßt hatte, nebenher mit Kokain zu dealen und auch noch zwei Morde zu begehen, ohne Bulger um Erlaubnis zu fragen, wurde eines Tages in einem Müllsack gefunden: mit einem Eispickel erschlagen und zur Sicherheit auch noch erschossen.

1994 jedoch begann der Sturz des Gangsterbosses Bulger. Damals beschloss die Drogenvollzugsbehörde der Vereinigten Staaten, sich zusammen mit der Polizei des Staates Massachusetts und der Polizei von Boston Bulgers Spielergeschäfte einmal genauer anzusehen. Das FBI war an der Untersuchung nicht beteiligt; es galt mittlerweile als hoffnungslos kompromittiert. Ironischerweise hatte Bulger zusammen mit drei Freunden drei Jahre zuvor 14 Millionen Dollar im Lotto gewonnen. Aber das nützte ihm nun nichts mehr; nach dem Herbst des Jahres 1996 befand sich Bulger auf der Flucht.

Für das FBI könnte sich der Prozess, der jetzt beginnt, als ausgesprochen peinlich erweisen. Niemand weiß genau, wann Bulger von den Bundesagenten als Informant rekrutiert wurde – man nimmt an, dass er irgendwann Mitte der 70er-Jahre anfing, mit dem FBI zusammenzuarbeiten. 2008 wurde der ehemalige FBI-Agent John Connolly, der sozusagen Bulgers Führungsoffizier war, verurteilt, weil er Bulger Informationen zugespielt hatte, die zu einem Mord führten.