Etwa zehn Jahre waren drei Frauen in Cleveland eingesperrt. Ihr mutmaßlicher Peiniger soll sie immer wieder vergewaltigt haben. Jetzt sind die Frauen wieder mit ihren Familien vereint.

Washington. Die jungen Entführungsopfer von Cleveland feiern ihre Freiheit, ihr mutmaßlicher Kidnapper hingegen muss sich auf ein Leben hinter Gittern gefasst machen. Ariel Castro wirkte bei seinem ersten Auftritt vor Gericht am Donnerstag apathisch und müde. Kein einziges Mal hob er den Blick, als Staatsanwalt Brian Murphy ihn als verkommen, selbstsüchtig und brutal charakterisierte. Im zerschlissenen dunkelblauen Gefängnisanzug, unrasiert und ungepflegt, machte der 52-Jährige den Eindruck eines Verurteilten – noch bevor der Prozess beginnt. Die Richterin stellte ihn wegen Suizidgefahr unter intensive Beobachtung.

Am Tag zuvor gab es Jubelbilder, als Amanda Berry und Gina DeJesus, zwei der drei entführten Frauen, nach einer Dekade des Horrors endlich wieder nach Hause kamen. Ihre Familien hatten die Hoffnung nie aufgegeben. Das Zimmer von Berry sah aus wie immer, auch Jahre nachdem das damals 16-jährige Mädchen 2003 in Cleveland verschwunden war. Ihre Post und Zeitschriften habe ihre Mutter im Kinderzimmer gestapelt, berichteten Medien unter Berufung auf Berrys Tante Tina Miller. Geschenke für Geburtstage und Weihnachten, an denen die Vermisste fehlte, lagen daneben.

Ermittlungen noch ganz am Anfang

Castro wird sich zumindest nach bisherigem Ermittlungsstand keine Hoffnung machen können, jemals wieder auf freien Fuß zu kommen. Entführung in vier Fällen, Vergewaltigung in drei Fällen, lautet die Anklage. Und die könne sich noch deutlich erweitern, machte die Staatsanwaltschaft klar. Je nachdem, welche Grausamkeiten noch ans Tageslicht kämen, denn die Untersuchung der Vorgänge in dem „Horrorhaus“ von Cleveland während der vergangenen etwa zehn Jahre stehe noch am Anfang.

Im Fall von Berry war ein Anruf, dass jemand sie von ihrem Job bei einem Fast-Food-Restaurant nach Hause bringen würde, das Letzte, was ihre Familie von ihr hörte. Dann kein Wort, kein Lebenszeichen mehr. Das jahrelange Hoffen und Bangen begann. Berrys Mutter starb über dem Kummer 2006.

Ein Jahrzehnt nach der Entführung, die Berry mit Gina DeJesus und Michelle Knight eingesperrt nur wenige Kilometer entfernt von ihrem Zuhause verbrachte, fand die Gruselgeschichte ihr glückliches Ende: „Hallo Papa, ich lebe“, sagte Berry nach ihrer Befreiung am Montag (Ortszeit) am Telefon zu ihrem Vater. „Sie hat dann gesagt „Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich“ und dann haben wir beide angefangen zu weinen“, sagte der inzwischen in Tennessee lebende Johnny Berry.

Auch ihre Großmutter rief Berry an. „Ich liebe dich, Schätzchen, Gott sei Dank“, antwortete die Frau. „Ich habe all diese Jahre immer an dich gedacht. Ich habe dich nie vergessen.“ Es gehe ihr gut, sagte Berry. Während ihrer Gefangenschaft habe sie eine Tochter zur Welt gebracht.

Die Familie habe vor Freude geweint, als die Nachricht kam, erzählte DeJesus' Bruder Ricardo. „Ich bin so froh, dass ich sie wiedersehen konnte. Es waren neun lange Jahre. Ich bin einfach so froh, dass ich sie sehen und umarmen und sagen konnte „Ja, du bist endlich wieder zu Hause“.“

Es gehe DeJesus den Umständen entsprechend gut, sagte ihre Schwester Mayra. Und ihre Tante ergänzte: „Diese Mädchen sind so stark. Was wir in zehn Jahren gemacht haben ist nichts im Vergleich zu dem, was sie in der Zeit gemacht haben, um zu überleben.“

Nur wenige Kilometer entfernt

In der langen Phase des Wartens waren die drei Frauen eigentlich ganz nah: Von der Lorain Avenue, in der laut CNN alle drei wohnten, bis zum „Horrorhaus“ in der Seymour Avenue sind es mit dem Auto nur wenige Minuten. Der Angeklagte war in dem hauptsächlich von Einwanderern bewohnten Viertel bekannt. Trotzdem gab es anscheinend etwa zehn Jahre lang keine heiße Spur, kein Lebenszeichen der Opfer.

DeJesus' Onkel Tito spielte sogar in mehreren Bands mit dem Hauptverdächtigen Ariel Castro und besuchte ihn zu Hause. „Ich hatte überhaupt keine Ahnung“, sagte er. Das Haus sei immer abgeschlossen gewesen, sagte Castros Sohn Anthony, der nach eigenen Angaben schon vor längerer Zeit zu Hause auszog und nur noch wenig Kontakt zu seinem Vater hat. „Es gab Orte, an die wir nie gehen durften. Der Keller war verschlossen, der Dachboden, die Garage.“