Jedes Jahr verschwinden in Indien mehr als 90.000 Kinder. Oft zeigt die Polizei jedoch Desinteresse. Im aktuellen Fall der Fünfjährigen sollen Beamte den Eltern sogar Schweigegeld angeboten haben.

Neu-Delhi. Dass ein Kind verschwindet, die Polizei informiert wird, aber nichts passiert, ist offenbar Alltag in Indien. Das aktuelle Schicksal eines über drei Tage festgehaltenen und wiederholt vergewaltigten fünfjährigen Mädchens deutet auf erhebliche Defizite bei den indischen Ermittlungsbehörden. Die Eltern des Opfers geben an, in der vergangenen Woche immer wieder bei der Polizei vorgesprochen zu haben, um wenigstens das Verschwinden ihrer Tochter behördlich aufnehmen zu lassen. Sie wurden jedoch nach eigenen Angaben zurückgewiesen.

Zwei Tage nach dem Verschwinden des Mädchens hörten Nachbarn das Wimmern des Kindes in einer anderen Wohnung desselben Mietshauses, in dem die Familie des Opfers lebt. Sie brachen die Tür zu der Wohnung auf und brachten das Kind zur Polizei. Die Eltern sagten, die Polizisten hätten ihnen umgerechnet 28 Euro angeboten, wenn sie über den Vorfall Stillschweigen halten würden. „Die wollten uns nur loswerden“, sagt der Vater, der nach indischem Recht anonym bleiben muss. „Die wollten den Fall nicht einmal aufnehmen, nachdem sie gesehen haben, wie heftig unsere Tochter missbraucht worden ist.“

Neeraj Kumar ist Polizeichef in der indischen Hauptstadt und gab am Montag zu, dass sich seine Behörde in diesem Fall falsch verhalten habe. „Es gab Defizite, der Stationschef und sein Stellvertreter wurden suspendiert“, sagte Kumar gegenüber der Presse.

Mehr als 90.000 Kinder werden jedes Jahr in Indien vermisst; mehr als 34.000 werden nie gefunden. Viele Eltern werfen der Polizei vor, wertvolle Zeit zu verlieren, weil sie die Kinder als Ausreißer abstempelten, sich weigerten, die Anzeigen aufzunehmen oder die Fälle als lästige Ärgernisse empfänden und auch so behandelten. Es gibt auch Eltern, die mit ihren Vorwürfen noch weiter gehen: Diskriminierung armer Eltern sei an der Tagesordnung.

So dauerte es zwei Wochen, bis Pravesh Kumari Singh eine Vermisstenanzeige für ihren 14-jährigen Sohn Pankaj einreichen konnte. „Mein Mann und mein Vater sind jeden Tag zur Polizeistation gegangen, aber die Polizisten haben sie weggescheucht“, berichtet die Mutter. Ihr Sohn ist jetzt seit drei Jahren vermisst. Sie habe ihm an seinem letzten Morgen im Kreis der Familie Frühstück gemacht und sei dann außer Haus gegangen. „Er wollte ein Bad nehmen und dann für seinen Schulabschluss lernen“, erzählt sie. Als sie wiederkam, sei er nicht mehr da gewesen. Die Nachbarn hätten ihr erzählt, er sei von Freunden abgeholt worden. „Die Polizei hat uns nicht geglaubt, dass ihm etwas passiert sein könnte“, sagt die Mutter. „Sie haben uns beschuldigt, dass wir ihn ausgeschimpft und geschlagen hätten, deswegen sei er wohl abgehauen.“

Rechtsanwalt Bhuwan Ribhu vertritt eine Bürgerinitiative, deren Namen soviel wie „Rettet die Kindheit“ bedeutet. Er gibt an, dass Beschwerden über das Verhalten der Polizei in Fällen von verschwundenen Kindern nur bei jedem sechsten Fall aktenkundig seien. Aber das heißt nicht, dass es sie nicht gebe: Die Polizei weigere sich nur, sie anzunehmen, um die Kriminalstatistik sauberer erscheinen zu lassen, sagt Ribhu. Außerdem seien viele Familien zu arm, um die Beamten schmieren zu können. So blieben die Ermittler oft in den wichtigen ersten Stunden nach dem Verschwinden der Kinder untätig und verschenkten Zeit: „Die Polizei könnte die unmittelbare Umgebung überwachen, könnte Suchanzeigen an Bus- und Bahnhöfen aufhängen und die Aufmerksamkeit erhöhen, um Entführer zu schnappen“, sagt der Anwalt.

Nach Angaben von Bürgerinitiativen werden viele der verschwundenen Kinder von Menschenhändlern zum Betteln gezwungen oder als Kindersklaven an Großbauern oder die Industrie verkauft. Viele Mädchen müssen sich prostituieren oder werden zur Zwangsheirat genötigt. Die indische Bundesregierung bestätigt, dass es einen alarmierenden Trend gebe: Laut Frauen- und Familienministerium hat sich die Zahl der nicht gefundenen Vermissten pro Jahr von 2009 bis 2011 nahezu verdoppelt.

Der 45-jährige Kunwar Pal sucht seit drei Jahren nach seinem Sohn Ravi Kumar, der als damals Zwölfjähriger in Neu-Delhi verschwand. Den Glauben an die Unterstützung der Polizei hat der Vater längst verloren. Er sucht selbst, radelt in jeder freien Minute durch die zersiedelte Hauptstadt des Subkontinents und klappert Bahnhöfe, Krankenhäuser und Kinderheime mit Handzetteln ab. Wann immer er davon hört, dass ein Jugendlicher aufgegriffen worden ist, fährt er in der Hoffnung hin, es könnte Ravi sein. Er klammert sich an den Glauben, dass Ravi von einem kinderlosen Paar aufgenommen wurde, das selbst Kinder haben wollte. „Wenn sie mich nur wissen lassen würden, dass es ihm gut geht, wäre ich glücklich“, sagt der schmale Mann. „Sie könnten ihn behalten. Ich will nur seinen Schatten sehen. Und wissen, dass er lebt.“