In Marseille beginnt der Prozess um gefährliche Brustimplantate aus Billigsilikon. Tausende Frauen sind auch in Deutschland betroffen.

Marseille. Eine solche Heerschar an Nebenklägerinnen und Anwälten passt in keinen Gerichtssaal. Deswegen wird der mit Spannung erwartete Prozess um Brustimplantate aus Billigsilikon, der an diesem Mittwoch in Marseille beginnt, in das Kongresszentrum im Parc Chanot verlegt. Von den bislang 5127 Nebenklägerinnen wird jede zehnte im Saal erwartet, hinzu kommen mehr als 300 Anwälte.

Verhandelt wird einer der größten internationalen Medizinskandale. Allein in Frankreich wurden seit Mitte der 90er-Jahre mehr als 30.000 Frauen Brustimplantate des Herstellers PIP eingesetzt. In Deutschland sollen es rund 5000 Frauen sein.

Das Problem: Der exzentrische Firmengründer Jean-Claude Mas hat die Silikonprothesen mit einem kostengünstigen Industrieprodukt gepanscht, das der deutsche Hersteller Brenntag eigentlich für den Baustoffhandel bestimmt hatte. Dieses Gel war zwar für Matratzen und Computer hervorragend geeignet, aber nicht für menschliche Brüste.

Die Gel-Einlagen bekamen häufig Risse – 4100 Fälle wurde bisher gemeldet – und sollen zu Entzündungen geführt haben. Mehrere nationale Gesundheitsbehörden veröffentlichten Warnungen und forderten seit 2011 die Patientinnen auf, sich die Problem-Implantate wieder entfernen zu lassen. Etwa die Hälfte aller PIP-Kundinnen in Frankreich soll dieser Empfehlung bisher nachgekommen sein. Wie groß der Anteil im Ausland ist, ist bislang unklar.

Den Angeklagten, Firmengründer Mas und vier ehemaligen leitenden Angestellten, drohen bis zu sechs Jahre Haft. Mas hat bereits eingeräumt, seine Produkte mit dem Billig-Gel gefüllt zu haben, bestreitet aber, das davon eine gesundheitsgefährdende Wirkung ausgehe. „Alle Silikongele haben eine reizauslösende Wirkung“, behauptet Mas.

Der 73-Jährige räumte gegenüber den Ermittlern allerdings ein, die Kontrolleure des TÜV Rheinland, der die PIP-Implantate für Europa zertifizierte, systematisch getäuscht zu haben. Vor den Kontrollbesuchen der TÜV-Mitarbeiter ließ Mas Unterlagen mit Hinweisen auf das Billiggel und Container mit dem Produkt regelmäßig von Mitarbeitern verstecken. Dass die Implantate mit einem selbst zusammengerührten „Haus-Gel“ gefüllt wurden, war für Mitarbeiter der Firma offenbar kein Geheimnis.

„Es gibt die Tendenz, immer nur über Herrn Mas und Herrn Couty (Ex-Geschäftsführer; d. Red.) zu sprechen, aber es gibt noch drei weitere Verantwortliche. Vielleicht muss sich bei denen das Gewissen mit dem Mut verbünden, damit sie uns die Gründe erklären, die sie dazu gebracht haben, Geld als wichtiger anzusehen als die Gesundheit der Frauen“, sagte der Rechtsanwalt Philippe Courtois, der allein 2800 der betroffenen Frauen vor Gericht vertreten wird.

Während Firmengründer Mas laut den Ermittlungsakten freimütig einräumt, das Billiggel statt des zehnmal so teuren, medizinisch weniger bedenklichen Nusil-Gels eingesetzt zu haben, wunderte sich Couty über die „mediale Aufregung“. Die übrigen Angeklagten gaben in den Vernehmungen zumeist vor, aus Sorge um ihre Arbeitsplätze geschwiegen zu haben.

Mehr als fraglich ist, ob die Klägerinnen im Erfolgsfall auf eine Entschädigung hoffen können. PIP ist nämlich pleite. Der TÜV Rheinland sieht sich auf der Seite der Opfer und hat sich ebenfalls als Nebenkläger angemeldet. Versicherungskonzerne wie die Allianz lehnen Zahlungen mit der Begründung ab, dass eventuell mit PIP geschlossene Verträge wegen Betruges nichtig seien.

Anwälte der Betroffenen äußerten vor Prozessbeginn verschiedentlich ihre Enttäuschung, dass nur Vertreter des Unternehmens, aber weder der TÜV noch die französische Arzneimittelzulassungsbehörde ANSM oder die ausführenden Schönheitschirurgen auf der Anklagebank säßen. „Niemand kümmert sich um die Schönheitschirurgen“, beklagt die Rechtsanwältin Christine Ravaz. „Die Staatsanwaltschaft begnügt sich damit, einen Medienprozess zu organisieren, der Millionen von Euro kosten wird, aber werden die Opfer je entschädigt werden?“, zweifelt auch der Advokat Roland Mino.

Den Klägerinnen geht es jedoch in dem Prozess auch darum, „endlich als Opfer anerkannt zu werden“, wie es Alexandra Blachère formuliert, die Vorsitzende einer Betroffenengruppe. Einige hoffen zumindest auf die Einrichtung eines staatlichen Fonds für Entschädigungen – die in Frankreich allerdings auf 4200 Euro pro Fall begrenzt sind. Der Rechtsanwalt mehrerer betroffener Venezolanerinnen, Arie Alimi, hofft daher auf Brüssel: „Die EU muss einen Entschädigungsfonds für die Opfer einrichten“, fordert der Anwalt. Denn Brüssel sei wegen der „laschen Kontrollen“ der Implantate der „Ursprung dieser Katastrophe“.

Der Prozess soll bis zum 17. Mai dauern, er könnte aber auch noch kurzfristig verlegt werden. Zwei Stunden vor dem geplanten Prozessbeginn soll das Gericht über einen Antrag der Verteidigung entscheiden, die Verhandlung zu vertagen. Angeblich war die Vorladung ihres Mandanten nicht datiert.