Der Lippenstift veränderte Aussehen und Gesellschaft. Visagist: “Er ist die sanfte Waffe der Frau, ein kleiner Zauberstab der Emanzipation.“

Berlin. Cliff Richard hat ihm 1988 seinen Schlager "Rote Lippen soll man küssen" gewidmet, Sängerin Hildegard Knef machte Werbung für ihn, Psychologen rühmen seine erotisierende Wirkung.

Vor 130 Jahren wurde der Lippenstift erstmals in seiner jetzigen Form vorgestellt - auf der Weltausstellung in Amsterdam, die am 1.Mai 1883 eröffnet wurde. Zuvor wurde die Farbe in kleinen Dosen aufbewahrt. Seit der Präsentation in Stiftform hat er nicht nur das Aussehen der Frau, sondern auch ihre Rolle in der Gesellschaft verändert. Heute ist er meistverkauftes Schönheitsprodukt der Welt und aus den Handtaschen vieler Frauen nicht mehr wegzudenken.

Doch der Lippenstift galt zunächst als anrüchig, nur Tänzerinnen und Huren schminkten sich damit - die berühmte französische Diva Sarah Bernhardt gab ihm sogar den Beinamen "Stylo d'Amour" ("Stift der Liebe"). Zudem war der kleine Stift anfangs nahezu unbezahlbarer und absoluter Luxus. Erst mit der Verbreitung des Stummfilms in den 20er-Jahren wurde der Lippenstift populärer.

Der vollständige Durchbruch in Westdeutschland kam nach dem Krieg, als die Amerikaner den Drehlippenstift mitbrachten und die Schauspielerin und Sängerin Hildegard Knef für den "Volkslippenstift" (VL) für schlappe 1,50 Mark warb. "Hilde sagte immer zu mir: Mach mir mal Farbe auf die Lippen, damit ich weiß, wo vorne ist", erzählt René Koch, Visagist und Besitzer des Lippenstiftmuseums in Berlin. Seitdem hat der Lippenstift eine erstaunliche Karriere gemacht: 78 Prozent der deutschen Frauen benutzen ihn einer Umfrage zufolge. 2012 gaben die Deutschen 64 Millionen Euro in Parfümerien und Kaufhäusern dafür aus - 5,6 Prozent mehr als 2011. "Eigentlich ist der Lippenstift derzeit populärer denn je", sagt Koch. "Er ist die sanfte Waffe der Frau, ein kleiner Zauberstab der Emanzipation."

Schon vor Tausenden von Jahren malten einflussreiche Frauen wie Nofretete oder Kleopatra ihre Lippen rot an. Damals wurde die Farbe noch in kleinen Döschen aufbewahrt und mit dem Finger oder Pinsel aufgetragen. Der älteste Fund, der auf das Färben von Lippen hindeutet, stammt sogar aus dem Jahr 3500 vor Christus. Bei Ausgrabungen in der sumerischen Stadt Ur entdeckten Forscher eine Art Lippensalbe. Zwei Franzosen versetzten Jahrtausende später die Pomade dann mit Hirschtalg und Bienenwachs und präsentierten sie - unhandlich mit Seidenpapier umwickelt - in Stiftform bei der Weltausstellung in Amsterdam 1883.

Pünktlich zum 130. Jubiläum feiert in diesem Jahr knallroter Lippenstift sein Comeback. Auch im Nobelkaufhaus Galeries Lafayette in Berlin gehören Lippenstifte in unzähligen Rotnuancen zur Produktpalette. "Rot kommt ganz massiv", bestätigt eine Verkäuferin. Schauspielerin Dita von Teese, die als Vertreterin der New Burlesque immer mit lasziv geschminkten Lippen auftritt, habe den Rottrend wieder ausgelöst. "Es kommen heute deutlich mehr Männer zu uns, die gezielt nach einem roten Lippenstift für ihre Frau oder Freundin suchen", sagt eine Kollegin.

"Rot wirkt immer erregend und aufmerksamkeitsheischend, kann aber auch ein Zeichen von Macht und Dominanz sein", sagt Psychologe Peter Walschburger von der Freien Universität Berlin. In allen entwickelten Kulturen würden rote Lippen sowohl bei Männern als auch bei Frauen bevorzugt. Zudem sei der Mund mit das ausgeprägteste Attraktivitätsmerkmal, so Walschburger. "Da liegt es natürlich nahe, dass man ihn hervorhebt, wenn man etwas erreichen will." Ein Psychologie-Professor an der Universität von Louisville im US-Bundesstaat Kentucky, entschlüsselte in den letzten 17 Jahren die nonverbale Sprache der Lippen und fand Interessantes heraus. Wenn die Frau einen Mann attraktiv findet, dann werden ihre Lippen voller und dunkler", so der Forscher. Ganz ohne Lippenstift. Wer ein bisschen nachhelfen möchte, benutzt ihn trotzdem. Heute immer öfter wieder in knalligen Farben. "Rot kommt zurück, weil die Frauen selbstbewusster und erfolgreicher geworden sind", sagt auch René Koch. "Denn die Farbe der Lippen ist auch immer ein Spiegel der Zeit."

Ein durchschnittlicher Lippenstift besteht zu etwa 60 Prozent aus Wachs und bis zu 30 Prozent aus Ölen. Hinzu kommen Parfüm, manchmal Silikone und natürlich die Farbpigmente. Neben vielen synthetischen Farben ist Karmin bzw. Cochenille als natürlicher Farbstoff zugelassen. Die Farbe wird aus den Cochenille-Schildläusen gewonnen, die etwa in Lateinamerika leben und sich dort am liebsten an Kakteen festsaugen. Für die Herstellung werden die Schildlausweibchen getrocknet und ausgekocht. Karmin wird vor allem von Naturkosmetikfirmen für die Färbung der Lippenstifte verwendet.

Ob das auch US-Sängerin Rihanna, ("Diamonds") weiß? Die 25-Jährige möchte zukünftig Lippenstifte kreieren. Make-up zu entwickeln sei nichts anderes, als Musik zu machen oder Mode zu entwerfen, sagte sie. Ihr erstes Produkt soll ein Lippenstift mit dem Namen Riri Woo sein. Ob es diesen auch in einem satten Rotton geben wird, verriet die Sängerin nicht.