Fingierte Unfälle, falsche Beschuldigungen: Millionen Russen schützen sich mit Minikameras in ihren Autos - oft aus gutem Grund.

Moskau. Alexei Dosorow würde sich eher ohne Kleidung als ohne seine Minikamera ins Auto setzen. Das elektronische Auge auf dem Armaturenbrett ist stets nach vorn auf die Straße gerichtet und soll ihn schützen: vor allem vor der Willkür von Polizei und Justiz, der sich auf diese Weise inzwischen Millionen Verkehrsteilnehmer in Russland zu erwehren versuchen.

Wie wichtig dieser Schutz sein kann, erlebte Dosorow im vergangenen April. Der 48-jährige IT-Fachmann aus der Stadt Puschkino nahe Moskau fuhr mit seinem Roller den Moskauer Gartenring entlang, eine belebte Straße rund um Moskaus Stadtzentrum. Mangels Armaturenbrett hatte er die Kamera an seiner Jacke befestigt. Dann passierte es: An einer Kreuzung stieß er mit einem Auto zusammen. Niemand wurde verletzt, doch der Roller und der Wagen waren beschädigt. Der Verkehrspolizist wies die Schuld sofort Dosorow zu. Eine Haftpflichtversicherung hatte er nicht, da nur wenige russische Unternehmen Roller versichern. Er hätte für den Schaden am Auto umgerechnet 1250 Euro und für die Reparatur seines Rollers weitere 800 Euro zahlen müssen. Wenn, ja wenn da nicht seine laufende Kamera gewesen wäre. Deren Aufnahmen zeigten nämlich eindeutig, dass er bei Grün über die Kreuzung gefahren war, das Auto dagegen bei Rot. Es gab an dieser Kreuzung auch fest installierte Überwachungskameras, und Dosorow wollte, dass diese Videos als zusätzliche Beweise herangezogen werden. Die Polizei lehnte seinen Antrag ab. "Niemand hat sich die Mühe gemacht, wegen so eines kleinen Falls nach Videos zu suchen", sagt Dosorow. Zum Glück reichte sein eigenes Video als Beweis aus.

Solche Vorfälle spielen sich tausendfach in Russland und vor allem der Hauptstadt Moskau ab. Videos von Unfällen stellen die Fahrer bei YouTube ein und beschreiben in Kommentaren, wie sie ihr Recht bekommen haben. Es ist die beste Werbung für Autokameras, und sie werden in Russland immer populärer. Nach Angaben der Elektronikhändlerkette Euroset wurden letztes Jahr in Russland 1,3 bis 1,5 Millionen solcher Geräte verkauft. Im Vergleich zum Vorjahr verfünffachten sich die Umsätze damit.

"Als ich 2010 zum ersten Mal eine Autokamera gesehen habe, wurde mir sofort klar, dass es eine begehrte Ware sein wird", sagt der Kleinunternehmer Andrej Wolkow. Er verkauft Autokameras in einem spezialisierten Laden in der Stadt Nischni Nowgorod und im Internet. Jetzt sind es 1000 Stück pro Monat, er ist sicher, dass es in Zukunft noch mehr werden. "Am Anfang waren die Menschen noch skeptisch, doch das Interesse ist schnell gestiegen", erzählt er. Kunden berichten ihm regelmäßig, wie hilfreich das Gerät für sie sei. Oft lässt sich damit auch Betrug im Straßenverkehr verhindern. Eine Situation, die in Russland häufig vorkommt: Ein Auto überholt von rechts, bremst plötzlich und provoziert damit einen Auffahrunfall. Anschließend bedroht der Fahrer den vermeintlichen Unfallverursacher und erpresst ihn um Geld. Wohl dem, der bei solchen fingierten Unfällen eine Kamera hinter der Frontscheibe hat.

In keinem anderen Land der Welt ist die Nachfrage nach Kameras so groß wie in Russland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Russische Autofahrer vertrauen elektronischen Geräten einfach mehr als anderen Fahrern, Verkehrspolizisten oder Richtern. "Ein Gericht würde die mündlichen Aussagen eines Verkehrspolizisten nie infrage stellen", sagt Alexei Dosorow. Allein die Anwesenheit der Kamera könne das Verhalten von Polizisten ändern, erzählt er. Denn Schmiergeld lässt sich nicht mehr so einfach verlangen, wie früher. Einmal wurde er in Moskau gestoppt, der Polizist behauptete, er sei bei Rot über die Ampel gefahren. "Ich habe vorgeschlagen, gleich das Video anzuschauen, weil ich mir sicher war, dass ich bei Grün gefahren bin. Daraufhin wurde ich sofort in Ruhe gelassen."

Dosorow engagiert sich schon lange für mehr Gerechtigkeit im Straßenverkehr. Er war der Erste in Russland, der auf den Gedanken kam, sich aus Protest gegen privilegierte Blaulichter einen blauen Plastikeimer am Autodach zu befestigen. Aus dieser Idee ist eine Bewegung der "blauen Eimer" geworden.

Dosorow ist zugleich Vorsitzender eines Vereins zum Schutz der Rechte von Autofahrern im Stadtgebiet von Moskau. Im Blog "blaue Eimer" werden Videos von Autokameras veröffentlicht, die zeigen, wie Fahrer von hohen Beamten gegen Verkehrsregeln verstoßen und Unfälle verursachen. Über soziale Netzwerke werden die Schuldigen an den Pranger gestellt und weitere Augenzeugen von Unfällen gesucht.

Die millionenfache Straßenüberwachung durch die Bürger hat übrigens einen bemerkenswerten Nebeneffekt: Kameras dokumentieren komische und seltene Ereignisse im Verkehrsalltag. YouTube und seine russischen Pendants sind voll mit solchen Videos: Ein Panzer fährt plötzlich über die Autobahn, ein Lastwagen kippt um und die Ladung purzelt auf den Asphalt, ein Flieger startet direkt über der Autobahn. Und so wurde auch der Meteoriteneinschlag über der Stadt Tscheljabinsk im Februar auf eine Weise bildlich eingefangen, wie man ein solches Naturereignis sonst nicht hätte dokumentieren können. Die zahllosen Videos von Autofahrern gingen um die Welt.