Mordverdächtiger Sportstar muss Kaution hinterlegen. Richter kritisiert Ermittler. Debatte über Gewalt in Südafrika

Pretoria. Als Richter Desmond Nair nach seiner rund zweistündigen Urteilsbegründung den Kautionsantrag bewilligte, war ein lautes "Yes" von den Plätzen zu hören, auf denen die Familie von Oscar Pistorius saß. Es klang fast wie der Jubel über einen Freispruch, wovon aber natürlich keine Rede sein kann. Das Verfahren gegen Pistorius, an dessen Ende über das Maß seiner Schuld an seinen tödlichen Schüssen auf das Model Reeva Steenkamp entschieden wird, steht erst am Anfang und kann sich über viele Monate hinziehen. Nicht einmal die Beweisaufnahme ist abgeschlossen.

Doch der Star des Behindertensports und sechsfache Goldmedaillen-Gewinner bei Paralympischen Spielen wurde am Freitag erst einmal auf Kaution freigelassen. Das Magistratsgericht in Pretoria gab nach einer viertägigen Anhörung dem Antrag der Verteidigung statt. Pistorius muss eine Million Rand (rund 85.500 Euro) in bar oder Bürgschaften hinterlegen, seine Pässe abgeben und sich zweimal wöchentlich bei der Polizei melden. Als weitere Auflage ordnete der Richter an, dass Pistorius sich weder dem Tatort - seinem Haus in einer streng bewachten Wohnanlage - noch Zeugen nähern darf. Am 4. Juni muss Pistorius erneut vor Gericht erscheinen.

Während seine Familie jubelte, zeigte der 26-Jährige auf der Anklagebank keine Regung. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm kaltblütigen Mord an seiner 29 Jahre alten Lebensgefährtin Steenkamp vor. Pistorius gestand zwar, die tödlichen Schüsse in der Nacht vor dem Valentinstag abgefeuert zu haben, wies den Mordvorwurf aber zurück. Er gab an, nur deshalb geschossen zu haben, weil er einen Einbrecher in seiner Wohnung vermutet habe. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Steenkamp während eines Streits vor Pistorius geflüchtet war und sich auf der Toilette eingeschlossen hatte, wo sie dann von den Schüssen durch die geschlossene Tür getroffen wurde.

Staatsanwalt Gerrie Nel hatte den Kautionsantrag in den Zusammenhang mit einer aktuellen Debatte zum Thema Gewalt gegen Frauen in Südafrika gestellt. "Sogar Präsident Zuma hat in seiner Rede zur Lage der Nation betont, dass diese Debatte Priorität haben muss", sagte Nel. Vor dem Gerichtsgebäude in Pretoria hielten Frauen der Regierungspartei ANC Plakate wie "Pistorius muss im Gefängnis verrotten" in die Höhe - unter die Demonstranten mischte sich zwischenzeitlich auch die Ministerin für Gleichberechtigung. Und der angesehene Kolumnist Rapule Tabane von der Wochenzeitung "Mail & Guardian" empörte sich: "Pistorius wurde mit Samthandschuhen angefasst, von den Behörden und den Medien, weil er ein privilegierter, reicher, weißer Südafrikaner ist."

Richter Nair aber musste bei seiner Entscheidung vor allem abwägen, ob bei Pistorius Fluchtgefahr oder eine Gefahr für Dritte besteht. Er folgte letztlich der Argumentation der Verteidigung, Pistorius' Prothesen würden es ihm unmöglich machen, das Land unerkannt über einen Flughafen zu verlassen. Zudem sei Pistorius nicht vorbestraft, es gebe nicht hinreichend Belege für aggressives Verhalten. Nair hinterfragte aber auch die Darstellungen von Pistorius. Es gebe da viele Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten, sagte er in der Begründung seiner Entscheidung. Die Verteidigung des Paralympics-Stars will eine Anklage wegen "fahrlässiger Tötung" erreichen.

Nair kritisierte wiederholt auch die Ermittler; sie hätten es versäumt, ausreichende Belege für ihre Theorie eines vorsätzlichen Mordes vorzulegen. Teilweise sei auch in der Kürze der Zeit verfügbares Material nicht ausgewertet worden. Der inzwischen abgelöste Chef-Ermittler Hilton Botha musste zugeben, dass er Telefonprotokolle nicht mit Nachdruck beantragt hatte, konnte auch die Entfernung einer Zeugin zum Tatort nicht angeben, die unter Eid von Schreien einer Frau kurz vor den Schüssen berichtet hatte. Die Spurensicherer übersahen zudem ein abgefeuertes Projektil. Zu allem Überfluss wurde am Donnerstag bekannt, dass gegen Botha ein Verfahren wegen versuchten Mordes läuft.

Für die Staatsanwaltschaft ist die Anhörung aber womöglich doch nicht ein Desaster solchen Ausmaßes, wie es derzeit den Anschein hat. Die Abberufung von Botha ist eine Blamage - wie auch die zahlreichen Ermittlungspannen. Doch sollten sich in der Schilderung des angeblichen Tathergangs durch die Verteidigung Widersprüche ergeben, könnte dies Pistorius' Position beim Prozess schwächen.

Pistorius' Trainer kündigte an, dass der Sprinter mit den Prothesen - ihm waren als Kleinkind wegen einer Missbildung beide Unterschenkel amputiert worden - am Montag wieder trainiere. Das scheint angesichts des mentalen Zustands von Pistorius vor Gericht kaum vorstellbar. Aber in diesem Kriminalfall ist die Öffentlichkeit an Überraschungen inzwischen gewöhnt.