Kaum ein Tag ohne Neujahrsempfang: Zu keiner anderen Zeit im Jahr werden so viele Ansprachen gehalten. Wir erklären den perfekten Auftritt.

Das gleichmäßige Brummen der vielen ineinander übergehenden Stimmen ist allmählich verstummt. Die Gesichter sind der Bühne zugewandt, die Hände klatschbereit. Vorne am Pult wartet jemand, auf den die nächsten Minuten alle Augen gerichtet sein werden, über den sich in den nächsten Minuten jeder im Publikum ein Urteil bilden wird. Ist er witzig? Ist er eloquent? Ist er arrogant? Oder - und das wäre doch das Schlimmste - ist er langweilig?

"Eine gute Rede ist wie ein guter Schuh", sagt Thomas Östreicher. "Man zieht ihn an und weiß sofort: Der passt!" Der 52-Jährige ist professioneller Redenschreiber, manche sagen Ghostwriter. 1998 wurde der Journalist Redenschreiber von Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD). Von seiner Zeit beim Radio wusste er, wie Texte fürs Hören geschrieben werden müssen. Das Verfassen von Reden ist für ihn eine Mischung aus Talent, Wissen und Handwerk.

Seit 2000 arbeitet Östreicher unter anderem als freiberuflicher Redenschreiber. Seine Aufträge erhält der Ottenser aus ganz Deutschland. Auch einige der Neujahrsansprachen, die in den vergangenen Jahren in Hamburg gehalten wurden, stammen von ihm. Diskretion steht in seiner Branche an oberster Stelle. Während es im angelsächsischen Raum üblich ist, Redenschreiber zu engagieren, sind die Ansprachen aus fremder Feder in Deutschland ein Tabuthema. "Ich gehe aber davon aus, dass bei den meisten großen Neujahrsempfängen Profis am Werk sind", sagt Östreicher. "Oder es sind doch alles brillante Redner."

Seit gut einem halben Jahr vermeidet der Dienstleister es, freiberuflich Reden für Hamburger zu schreiben. Er will in keine Interessenkonflikte mit seinem neuen Erstberuf kommen: Er ist Teil des Teams, das die Reden für Bürgermeister Olaf Scholz verfasst.

Östreichers Kunden sind sehr unterschiedlich: Großunternehmer, Mittelständler, Schuldirektoren oder Brautväter. Der Preis für eine private Rede beginnt bei etwa 400 Euro - nach oben gibt es keine Grenze. Für eine 30-minütige Ansprache zum Beispiel empfiehlt der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache ein Honorar von 2100 bis 3750 Euro. Dafür darf der Kunde aber auch mehr erwarten als eine Blaupause, bei der nur der Name ausgetauscht wird. Östreicher ist es wichtig, dass jeder Text auf den Redner zugeschnitten ist. Er führt dafür lange Vorgespräche. Dabei geht es nicht nur um den Inhalt. "Ich muss ein Gespür für Humor, Sprachwahl und Duktus entwickeln", sagt er.

Deswegen kann er seinen Mandanten auch nicht einfach irgendwelche Worte und Botschaften in den Mund legen. "Die meisten wissen ja, was sie sagen wollen. Sie wissen nur nicht, wie." Entweder die Kunden seien nicht ausreichend sprachgewandt oder sie hätten keine Zeit, um an Formulierungen zu feilen.

Und wie macht es nun der Profi? "Ich öffne der Muse das Fenster und hoffe, dass sie hereinflattert", sagt Östreicher. Zudem bringe er sich in bestimmte Situationen, von denen er weiß, dass sie seine Kreativität beflügeln. Mal dusche er, mal gehe er an einen bestimmten Ort, mal trinke er viel - Wasser, denn Alkohol sei entgegen der weitverbreiteten Meinung nicht förderlich. Manchmal dauere es fünf Minuten, manchmal fünf Stunden, bis die perfekte Idee hereinflattere. Auch beim Experten kommt die Kreativität nicht per Knopfdruck. Für den Notfall hat er ein kleines Notizbuch, in das er Formulierungen schreibt, die ihm im Alltag auffallen. "Ich übernehme diese Sätze nie. Aber sie sind eine gute Inspiration."

Östreicher empfiehlt außerdem, nur Stichworte mit ans Rednerpult zu nehmen - so bleibe die Ansprache lebendiger. Heikle Sätze und solche mit Zahlen und Fakten müssten hingegen ausformuliert werden. Zu viele Informationen sollten es aber nicht sein - gerade bei einer eher lockeren, positiven Neujahrsansprache. "Jeder merkt sich die Stimmung, aber kaum einer die Zahlen", sagt Östreicher. "Es geht nicht darum, eine Hochglanzoberfläche zu schaffen, sondern um Authentizität." (Fast) alles sei erlaubt, wenn es echt sei. Derbe Witze, Indiskretion und öffentliche Abrechnungen hält er aber für tabu. Außerdem wichtig: die Länge. Fünf bis zehn Minuten reichen.