1957 verschwand die elfjährige Schottin Moira Anderson. Ein Busfahrer habe sie getötet, behauptet dessen Tochter

London. Dies ist ein Fall wie aus einem Buch der Agatha Christie. Eine lange zurückliegende Geschichte: Ein elfjähriges schottisches Mädchen verschwindet spurlos, 55 Jahre später tauchen Indizien auf, die sein Schicksal klären könnten, und die Polizei lässt ein Familiengrab öffnen, in dem das wahrscheinlich ermordete Kind möglicherweise versteckt worden war. Es ist ein wahrer Kriminalfall, dessen Aufklärung man jetzt - nach mehr als einem halben Jahrhundert - einen bedeutenden Schritt näher gekommen ist.

Am 23. Februar 1957, während in der Grafschaft Lanarkshire nahe Glasgow ein Schneesturm wütet, besteigt Moira Anderson einen Bus, um in einem nicht weit entfernten Laden der Coop-Kette für ihre Großmutter Einkäufe zu tätigen. Doch sie kommt nie an, sie verschwindet spurlos, in der Polizeistatistik "Vermisste Personen" wird ihr Casus schließlich zur größten Fahndung in der schottischen Kriminalgeschichte.

Moira Anderson hatte eine Freundin, Sandra Brown, die seit den 90er-Jahren diesen Fall zu dem ihrem machte. Brown, 63, ist die Tochter des Busfahrers Alexander Gartshore aus Coatbridge in North Lanarkshire, dessen Bus Moira Anderson zu besagter Zeit bestieg. Gartshore vergewaltigte wenige Tage nach dem Verschwinden der kleinen Moira eine 17-Jährige, wofür er für Jahre hinter Gitter kam. Dort muss er zu einem Mitinsassen, James Gallogley, über seine Schuld gesprochen haben, was dieser später ausplauderte.

Niemand glaubte ihm, bis Gartshores eigene Tochter aus vielen Konversationen mit ihrem Vater zu der Überzeugung gelangte, er sei tatsächlich der Gesuchte. "Ich war 1957 acht Jahre alt", berichtet Sandra Brown heute, "und mein Vater, wie er so freimütig erzählte, glaubte offensichtlich, ich hätte keine genaue Erinnerungen mehr an die damaligen Vorgänge."

Wie der Mann sich irren sollte! Seine Tochter machte bald das Anliegen der Opfer sexueller Gewalt zu dem ihren, gründete die "Anderson Foundation" zur Hilfe für diese Opfer, wurde dafür vom Buckingham Palace mit einem Orden ausgezeichnet und schrieb nach dem Tode ihres Vaters, 2006, sogar ein Buch, "Where there is Evil" (Wo Böses existiert), in dem sie ihren Vater für Moiras Verschwinden haftbar machte; das Buch wurde später fürs Fernsehen verfilmt. Kurz vor seinem Tod hatte Gartshore seiner Tochter gebeichtet, Moira habe "sein ganzes Leben überschattet". Ihren Verdacht fand Mrs. Brown schließlich bestätigt, als bekannt wurde, was ihr Vater über einen früheren Bekannten geäußert hatte, Sinclair Upton: Der habe ihm "einen großen Gefallen getan".

Wie groß, wird aus jetzt vorliegenden Polizeipapieren ersichtlich. Sinclair Upton war im Februar 1957 gestorben, und in seinem offenen Grab hat der Busfahrer kurz vor der Beerdigung Moiras Leiche vermutlich versteckt, die ursprünglich, wie die Ermittler herausfanden, in einem Graben verscharrt lag. Das Familiengrab der Uptons geht auf das Jahr 1908 zurück, acht Leichen wurden hier beerdigt, aber erste Bodenscans zeigen an, das eine weitere Person hier begraben sein könnte.

Moiras Schwester Janet Hart, die in Australien lebt, und Sandra Brown beantragten daraufhin eine offizielle Öffnung der Grabstätte, was die schottische Justiz vor einem Monat gewährte. Mitglieder der Familie Upton gaben ebenfalls ihre Zustimmung.

Das Team der Ausgraber, das in dieser Woche an die Arbeit gegangen ist, wird von Professor Sue Black geleitet, die an der Universität Dundee forensische Anthropologie lehrt und dort das "Zentrum für Anatomie und Identifizierung" leitet. Black fand zuletzt auch international Anerkennung für ihre Untersuchungen an Massengräbern im Kosovo und im Irak. An der schottischen Grabstätte fehlen viele Dokumente für die Beerdigungen Anfang des 20. Jahrhunderts. Knochenproben werden daher den Ausschlag geben.

Über dem Upton-Familiengrab auf dem Friedhof von Coatbridge, unter einem bleischweren schottischen Winterhimmel, wölbt sich jetzt ein großes schwarzes Zelt, daran angeschlossen zwei weitere kleinere blaufarbene Zelte, Vorbereitungen für langwierige Untersuchungen. Als Erstes muss der von langen Regenperioden durchweichte Boden entwässert werden, was die Grabungsexperten "vor signifikante Herausforderungen stellt", wie Polizei-Chefinspektor Kenny MacLeod sagt. Das allein wird Tage in Anspruch nehmen. Das Fehlen so vieler Dokumente von früheren Beerdigungen, so fügt der Polizist hinzu, wird die Identifikationen nicht erleichtern. Behutsam und taktvoll wolle man vorgehen, aus Rücksicht auf die beteiligten Familien.

Nach den schauerlichen Geschichten um den verstorbenen BBC-Entertainer Jimmy Savile, der mutmaßlich ein pädophiler Serientäter war, steht die Insel jetzt vor einer weiteren kriminalistischen Enthüllung. Als habe die britische Gegenwart nicht genug Bedrückendes an sich, meldet sich aus der Vergangenheit diese Häufung trauriger Geschichten. Aber wenn der Fall der kleinen Moira erst einmal aufgeklärt sein sollte, wäre die Befreiung wie eine Katharsis. Für niemanden mehr als für Sandra Brown, die so viel investiert hat, ihren Vater als Sextäter zu überführen.