Junge Usbekin sucht Arbeit und wird zum Opfer von Ausbeutung und Gewalt. So ergeht es vielen Migranten in Russland

Moskau. Bakija Kassimowa schaut durch das Autofenster auf Moskau. Sie fährt an den neuen Büros und Einkaufszentren aus Glas und Stahl vorbei, an den kleinen Cafés und den neuen Kirchen. Die Stadt hat sich in den zehn Jahren, die sie in Moskau verbrachte, verändert. Doch das hat sie nicht mitbekommen. In der ganzen Zeit hat sie nichts anderes gesehen als das Lebensmittelgeschäft, in dem sie ohne Lohn arbeiten musste. Und wenn im Hof die Lkw entladen wurden, sah sie nichts anderes als die Plattenbauten des Randbezirks Goljanowo, der als der gefährlichste Stadtteil von Moskau gilt.

So hatte sich Bakija Kassimowa die Arbeit hier nicht vorgestellt. Sie hatte nach einem besseren Leben gesucht und war in der Sklaverei gelandet. Als sie ihr Heimatdorf nahe der usbekischen Hauptstadt Taschkent 2002 verließ, war sie 24 Jahre alt. Wie viele ihrer Landsleute brauchte sie eine Arbeit, um ihre Familie zu ernähren. Das Angebot der Kasachin Schanulu Istanbekowa hörte sich wie ein Traum an. 800 Dollar im Monat, 1000 Dollar, wenn man gut arbeitet. Kassimowa sagte Ja und bat ihre Mutter, auf die anderthalbjährige Tochter aufzupassen. Kassimowa stellte sich vor, dass sie nun genug Geld verdienen würde, um etwas davon nach Hause zu schicken. Vielleicht würde sie die Tochter irgendwann nachholen, dachte sie damals. Seitdem haben sie sich nicht mehr gesehen.

Im Lebensmittelgeschäft musste sie hinter der Theke, an der Kasse oder als Putzfrau arbeiten. Ihren Pass musste sie abgeben, doch da ahnte sie noch nichts Schlimmes. Die Arbeit begann jeden Tag um sechs Uhr morgens und endete erst nach Mitternacht. Kassimowa arbeitete und freute sich auf das versprochene Geld, doch es kam nicht. Die Ladenbesitzerin sagte, sie bekomme es später. Stattdessen setzte es Schläge für die kleinsten Verstöße. "Wir durften nicht das Geschäft verlassen, nicht miteinander sprechen", erzählt Kassimowa. Die Sicherheitsleute passten auf sie auf. Die Besitzerin drohte, Kassimowa und ihre Familie in Usbekistan umzubringen, falls sie jemandem von ihrer Situation erzählen würde. Kassimowa zweifelte nicht, dass sie dazu fähig wären. Ihr fehlen jetzt vier vordere Zähne, der Zeigefinger ihrer rechten Hand ist nach einem Bruch krumm geblieben.

Die Frauen im Lebensmittelgeschäft wurden vergewaltigt und brachten Kinder zur Welt. "Meine Tochter hat sie (die Besitzerin) mir gleich nach der Geburt weggenommen und gesagt, sie wird bei ihren Verwandten in Kasachstan aufwachsen", erzählt Kassimowa. Zwei Jahre später sagte man ihr, die Tochter sei gestorben. Das Gleiche passierte mit dem Kind von Leila Aschirowa. Vor fünf Jahren gebar Kassimowa einen Sohn und durfte ihn behalten. Doch da er den kleinen Raum im Geschäft nie verlassen hat und schlecht ernährt wurde, kann er noch nicht laufen.

Fünf Frauen, vier Männer und drei Kinder kamen vor Kurzem aus dieser Sklaverei frei, nachdem sich die Mutter eines Opfers an Nichtregierungsorganisationen gewandt hatte. Sie erfuhr über die Zustände von einer anderen jungen Frau aus Usbekistan, der vor wenigen Monaten die Flucht aus dem Geschäft gelungen war. Auch Kassimowa und Aschirowa haben versucht zu fliehen. Aschirowa lief zu einer Polizeistation und zeigte ihre Chefin an. Sie erzählt, die Polizisten hätten ihr versprochen, sie komme sofort frei und dürfe nach Hause fahren, wenn sie ihre Anzeige zurückziehe. Dann kam ihre Chefin, holte sie ab und sperrte sie wieder ein.

Als Kassimowa später durch die nicht verschlossene Hintertür floh, wusste sie, dass ihr die Polizei nicht helfen würde. Sie übernachtete in Treppenhäusern von Plattenbauten. "Ich sah eine Kundin (aus dem Geschäft) und bat sie um Hilfe", erzählt Kassimowa. "Sie rief aber meine Chefin an, und die holte mich zurück."

Das fehlende Wissen über eigene Rechte, schlechte Sprachkenntnisse und Naivität bringen Arbeitsmigranten in Russland immer wieder in Gefahr, Opfer von Sklaverei zu werden. Von der russischen Polizei können sie keinen Schutz erwarten, auch weil sich die Arbeitgeber in solchen Fällen nie um eine Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigung kümmern. Die Polizei vom Bezirk Goljanowo hat das Lebensmittelgeschäft mehrmals geprüft, nachdem besorgte Anwohner angerufen hatten, die Verkäuferinnen immer wieder mit blauen Flecken sahen. Doch die Polizei fand keine Verstöße. Die Anwältin Irina Birjukowa von der Nichtregierungsorganisation Bürgerlicher Beistand vertritt die Interessen von befreiten Migranten. "Wir bitten jetzt, den Fall den höheren Ermittlungsbehörden zu überlassen."

Zuerst versuchte die Polizei, den Fall herunterzuspielen und die Opfer wegen illegalen Aufenthalts auszuweisen. Nachdem die Migranten mithilfe von Nichtregierungsorganisationen und der Presse befreit wurden, hielt die Polizei sie für mehrere Stunden fest, die Anzeigen gegen die Besitzer des Geschäfts wurden nicht akzeptiert. Die Besitzer galten lange nicht als mutmaßliche Täter, sondern als Zeugen. "Jetzt heißt es bei der Polizei, sie seien verschwunden", sagt Anwältin Birjukowa.

Kassimowa will nun gegen ihre Peiniger aussagen, anschließend nach Hause fahren und ihre Tochter sehen. Dann will sie zurück nach Moskau kommen. Und wieder nach Arbeit suchen.