Entführt und im Dschungel ausgesetzt: die unglaubliche Geschichte der Marina Chapman, die jahrelang wie Mowgli lebte

London. "Ich war vier Jahre alt und drückte in unserem Kleingarten am Dorfrand Erbsen aus der Hülse. Auf einmal presste mir eine schwarze Hand ein feuchtes weißes Tuch auf Mund und Nase. Ich versuchte zu schreien. Die Hand drückte noch fester zu, und der Himmel wurde schwarz."

Das ist die früheste Erinnerung von Marina Chapman, einer dunkelhaarigen Hausfrau und Mutter in Bradford (Nordengland). Warum und wie die mutmaßliche Lösegeldentführung schieflief, weiß die gebürtige Kolumbianerin nicht. Vielleicht hatte der Kidnapper zu viel Chloroform verwendet und hielt das Opfer für tot, als er die Kleine im Anden-Dschungel aussetzte. Das Nächste, woran sie sich erinnert, sind "etwa 20 neugierige Kapuzineraffen", die aufgeregt um sie herumspringen. Für die folgenden fünf Jahre wird der Wald die neue Heimat des Mädchens, und die putzigen Primaten ihre Ersatzverwandtschaft. Ein halbes Jahrhundert danach hat Frau Chapman ihre abenteuerliche Vergangenheit - die Aufnahme in die Affenkolonie war nicht das einzige Drama - zu Papier gebracht.

Die Autobiografie "The Girl With No Name" (Das Mädchen ohne Namen) erscheint im April 2013 in Großbritannien - zeitgleich mit einer BBC-Dokumentation - und in sechs weiteren Ländern. Am 1. August kommt es von Rowohlt unter dem Titel "Das Mädchen, das aus dem Dschungel kam" auf den deutschen Markt. Auf seiner Webseite schildert Chapmans literarischer Agent Andrew Lownie, der ihre Geschichte für glaubwürdig hält, die Parallelen zwischen seiner Klientin und dem indischen Knaben Mowgli aus Rudyard Kiplings fiktivem "Dschungelbuch", der in einem Wolfsrudel aufwächst. "Marina folgte den Affen und tat ihnen alles nach - was sie fraßen und tranken, ihr geselliges Treiben, ihre Sprache. So wurde sie nach und nach Teil ihrer Familie. Sie rauften miteinander, spielten zusammen, durchlebten gemeinsam Zärtliches wie auch Furchterregendes. Marina entwickelte außerordentliche, übermenschliche Fähigkeiten wie Bäume-Erklettern, Anschleichen und Tierkommunikation." Bald, schreibt Lownie, konnte sie mit bloßen Händen Vögel und wilde Kaninchen fangen.

Britische Zeitungen haben Chapman bereits den Namen "Tarzana" gegeben, in Anlehnung an den Roman des Schriftstellers Edgar Rice Burroughs, der schon vielfach verfilmt worden ist, unter anderem mit Johnny Weissmüller in der Hauptrolle. Neben dem "Dschungelbuch" hat wohl kaum ein anderer Roman die Vorstellung der westlichen Welt vom Leben im Urwald mehr geprägt und das vermeintlich harmonische Zusammenleben von Mensch und Tier stärker idealisiert.

Vanessa James, 28, die jüngere ihrer beiden Töchter und Mitautorin des Buches, sagte der "Sunday Times": "Eindeutig lernte Mum, für sich selbst zu sorgen. Nur ein einziges Mal erkrankte sie sehr schwer - an giftigen Beeren. Als meine Schwester und ich klein waren, mussten wir Tierlaute ausstoßen, wenn wir etwas zu essen wollten. Mum erzählte uns Gutenachtgeschichten aus dem Dschungel, brachte gelegentlich Krabbel- und kleines Fellgetier ins Haus. Wir empfanden es als nichts Besonderes, so eine Mutter zu haben. Aber meine Schulfreundinnen liebten sie, weil sie so anders war."

Marinas "Affenzeit" endete, als sie von Wilderern entdeckt und nach Cucuta verschleppt wurde, eine der gewalttätigsten Städte Kolumbiens. Die Häscher machten ein Geschäft mit einem Zuhälter: Tausche hübsches junges Mädchen gegen Papagei! Marina wurde bis zur Bewusstlosigkeit misshandelt, doch noch bevor sie dem ersten Freier zu Willen sein musste, gelang ihr die Flucht.

Die nächsten Jahre lebte sie auf der Straße, schweißte andere obdachlose und verwaiste Kinder zu einer Diebesbande zusammen, verbrachte Nächte in Arrestzellen. Sie denkt, dass sie um 1950 geboren ist und etwa 15 war, als sie unter den Namen Marina Luz die Hausmädchenstelle bei einer Gangsterfamilie annahm. Meist arbeitete sie jedoch bei den Nachbarn, und als diese geschäftlich für ein halbes Jahr nach Bradford reisten, nahmen sie Marina mit. Den Rückflug traten sie allein an: Marina hatte sich auf einer Gemeindefeier in den heute 64 Jahre alten Bakteriologen und Kirchenorganisten John Chapman verliebt.

1977 heiratete das Paar. Marina brachte es bis zur Küchenchefin des Nationalen Medienmuseums in Bradford und arbeitet jetzt in einem Hort für Problemkinder. Was sie in der eigenen Kindheit und Jugend durchgemacht hat - nach Vanessas Ansicht die Ursache dafür, dass ihre Mutter nicht weinen kann -, bewahrte sie bis nach der Trauung für sich.

Vor fast zehn Jahren begann sie mit der Niederschrift, "aber ich war drauf und dran, das Manuskript ins Feuer zu werfen, weil ich dachte, ich würde es nie schaffen. Außerdem hielt ich mein Leben nicht für so interessant. Nur weil Vanessa anbot, mir zu helfen, machte ich weiter." Im Jahr 2007 flogen Mutter und Tochter nach Cucuta. Versuche, etwas über Marinas Eltern ausfindig zu machen, blieben allerdings ergebnislos.