Sieben Seismologen müssen wegen der Katastrophe von L'Aquila in Haft. Doch Prognosen sind kaum möglich, sagt die Fachwelt

L'Aquila. "Sie können sich jetzt einen ruhigen Abend machen und ein Glas Montepulciano genießen", sagte der Vizepräsident des Zivilschutzes, Bernardo De Bernardinis, am 31. März 2009 nach einer Krisensitzung in L'Aquila. In dem Abruzzen-Städtchen hatte seit Monaten immer wieder die Erde gezittert, 70 000 Einwohner waren beunruhigt. Doch der Zivilschutz und die Spitze der italienischen Erdbebenforschung gaben Entwarnung. Sechs Tage später zerstörte ein Erdbeben der Stärke 6,3 die mittelalterliche Stadt. Mehr als 10 000 Häuser brachen zusammen, ganze Wohnblocks zerfielen zu Schutt. 309 Menschen starben.

Die Schuldigen an dieser Katastrophe hat die italienische Justiz jetzt gefunden: De Bernardinis und sechs Kollegen der Risikokommission sind zu jeweils sechs Jahren Haft wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Durch ihre falsche Einschätzung hätten sie Mitschuld an dem Tod der 309 Menschen zu tragen. Noch rechnet zwar niemand mit einem umgehenden Strafvollzug, da in Italien Urteile in der Regel erst nach einem Berufungsprozess wirksam werden, aber der Schuldspruch löste eine Welle der Empörung aus - vor allem bei Wissenschaftlern. Eine Vorhersage von solchen Naturkatastrophen ist aus Sicht des Kieler Geomar-Instituts "mit letzter Sicherheit" nicht möglich. Man habe Anzeichen für Naturkatastrophen, aber "das ist keine Wissenschaft, in der man zwei und zwei zusammenzählt, und dann kommt vier heraus", sagte gestern Peter Herzig vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, der die Entscheidung "für grenzwertig" hält. "Wir haben immer noch Schwierigkeiten, Erdbeben vorherzusagen. Da werden wir in den kommenden Jahren vermutlich auch nur kleine Fortschritte machen."

Unterstützung erhält er von der amerikanischen Wissenschaftlervereinigung Union of Concerned Scientists: "Stellen Sie sich vor ... ein Wildbiologe käme ins Gefängnis, weil er den Angriff eines Grizzlybären nicht vorausgesagt hat", schrieb Michael Halpern auf der Internetseite. Die Verurteilungen seien "eine absurde und gefährliche Entscheidung", die gekippt werden müsse. "Das aus der Heimat von Galileo! Einige Dinge ändern sich nie."

In Italien trat gestern der Chefexperte für die Bewältigung von Naturkatastrophen zurück. "Ich sehe nicht die Bedingungen, um in Frieden zu arbeiten", sagte Luciano Maiani. Giustino Parisse, der bei dem Beben seinen Sohn, seine Tochter und seinen Vater verloren hat, findet es sinnlos, die Experten jetzt "auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen". Der Italiener kann sie sich "nicht als Mörder meiner Kinder vorstellen". Er schreibt in der Zeitung "IL Centro": "Es war ein Prozess gegen Wissenschaftler, die gegenüber dem Willen der Macht das Hirn abgeschaltet und Befehlen gehorcht haben." Parisse sieht die Verurteilten als "zerbrechliche Menschen", die ihre Fehler eingestanden hätten. Diese hätten sie jedoch in den Strudel einer Tragödie gezogen, in der sie nun unterzugehen drohten.

Den Prozess gegen die Experten hatten die Angehörigen von Claudio Fioravanti aus L'Aquila erst ins Rollen gebracht. Der Steuerrechtler hatte dem Experten Bernardo De Bernardinis geglaubt und war mit seiner Familie im Haus geblieben, als die Erde am 6. April bebte. Sohn Guido erinnert sich, dass seit seiner Kindheit bei jedem Beben die Bevölkerung aus den Häusern auf die Straße strömte. "Dann kamen der 31. März 2009 und die Kommission, und alles war auf einmal anders." Sein Vater ist eines von 309 Todesopfern.

De Bernardinis zumindest hält sich "vor Gott und den Menschen" für unschuldig, sagte er nach dem Urteil.

In der Altstadt kommt auch nach so vielen Jahren der Wiederaufbau nicht in Gang. Nach wie vor ist dieser Teil der Stadt von roten Plastikbauzäunen abgesperrt. Die Stadtverwaltung und die Regionalregierung werden von unterschiedlichen politischen Parteien beherrscht, und die geben sich gegenseitig die Verantwortung dafür, dass bis auf "New Towns" auf der grünen Wiese außerhalb von L'Aquila noch kein Haus des Stadtkerns instand gesetzt wurde. Bürgermeister Massimo Cialente beklagt, dass die von der Regierung für den Wiederaufbau bereitgestellten Milliarden Euro "in den Bäuchen der Banken schlafen". Dabei sind 12 000 Bewohner ohne feste Bleibe.

Der Minister für regionale Angelegenheiten, Fabrizio Barca, versichert hingegen, dass Verzögerungen nicht an mangelnden Ressourcen liegen. Insgesamt 3,4 Milliarden Euro seien vorgesehen, 250 Millionen könnten innerhalb von 48 Stunden zur Verfügung gestellt werden.