Hildegard von Bingen wird als erste Frau zur Kirchenlehrerin ernannt - nach 780 Jahren

Rom. Plötzlich hatte es der Heilige Stuhl in Rom in einem gut 780 Jahre dauernden Verfahren eilig. Das liegt an einem Brief, der auf Weihnachten 2010 datiert ist. Die Absender, Äbtissin und Konvent der Abtei Sankt Hildegard in Hessen, bitten um Heiligsprechung ihrer Klostergründerin Hildegard. Es ist seit dem Mittelalter schon der x-te Vorstoß, die Päpste kennen das. Manchmal gab es ein förmliches Verfahren, das dann irgendwann im Sand verlief. Aber mit diesem Brief ist es anders.

Die Benediktinernonne Hildegard von Bingen (1098-1179) ist eine der populärsten Gestalten des deutschen Mittelalters. Gelehrte und Gläubige bewundern ihre theologischen Bücher. Ihr Geplänkel mit der männlichen Kirchenhierarchie hat sie zu einer Ikone des Feminismus gemacht. Grüne lieben ihre Thesen vom sorgsamen Umgang mit der Schöpfung, Naturheilkundler teilen ihre Begeisterung für Dinkel und Kräutertherapien, Esoteriker träumen von ihren Visionen. Doch trotz dieser Verehrung wertet die Kirche ihren Status erst jetzt offiziell auf: Im Mai wurde sie heiliggesprochen, und am Sonntag wird Benedikt XVI. sie feierlich zur ersten deutschen Kirchenlehrerin der Geschichte ernennen. Das heißt: Sie wird anerkannt als außergewöhnliche Theologin, der die Kirche entscheidende Erkenntnisse über Gott verdankt. Damit endet eines der längsten und kompliziertesten bürokratischen Verfahren des Vatikans.

Im Kloster Rüdesheim am Rhein haben die Nonnen das in rotes Leinen gebundene Buch "Darlegung (Positio) über die Heiligsprechung und Kirchenlehrerschaft" zusammengestellt. Die Akte Hildegard. Auf 736 Seiten begründen Experten, warum Hildegard eine Heilige gewesen sei und Kirchenlehrerin werden müsse. Das Werk wird unter Verschluss gehalten. Es gibt nur 50 Exemplare, eines für den Papst, die anderen für einige Bischöfe und das Kloster. So ein Kirchenverfahren ist kompliziert, es jongliert mit verschiedenen Sprachen, viele Instanzen sind damit befasst, und gleichzeitig muss alles immer streng geheim gehalten werden.

Der erste Vorstoß, Hildegard zur Heiligen erklären zu lassen, erfolgt bereits kurz nach ihrem Tod. Sie wollte göttliche Visionen gehabt haben und schrieb darüber. Das brachte ihr die Aufmerksamkeit von Kaisern und Päpsten ein. Papst Gregor IX. eröffnet 1228 ein Verfahren, das aber bald gestoppt wird. Es folgen weitere Versuche. 1489 lässt ein Mainzer Erzbischof sogar Hildegards Grab öffnen, in der Hoffnung, dort eine Heiligenurkunde zu finden. Bewegung kommt erst im 20. Jahrhundert wieder in den Fall: In den 70ern gibt es in Deutschland die Hildegard-Renaissance. 1979, zum 800. Todestag, stellen die deutschen Bischöfe in Rom einen Antrag auf Erhebung zur Kirchenlehrerin. Aber die Kurie winkt ab: Eine Frau, die noch nicht formal heiliggesprochen wurde, könne nicht Kirchenlehrerin werden.

Erst als Joseph Ratzinger 2005 zum Papst gewählt wird, wachsen die Chancen wieder. Die Nonnen stecken besagten Brief dem Papstbruder Georg Ratzinger zu, der ihn mit nach Rom nimmt. Der Papst liest den Brief - und ist überzeugt. Er weist das Kloster Rüdesheim an, in kürzester Zeit die Nachweise für das Verfahren zu liefern. Die Nonnen machen sich an die Arbeit. Den letzten Text für ihr Beweisbuch schicken sie am 15. Dezember 2011 nach Rom, per E-Mail. Die Kurie übersetzt alles ins Italienische und schickt es ans Kloster zurück. Dort wird die Übersetzung geprüft. Erst dann gibt der Papst die Heiligsprechung Hildegards bekannt und kündigt ihre Ernennung zur Kirchenlehrerin an.