Wie kürzlich in München musste jetzt in Viersen ein Blindgänger gesprengt werden. Schäden größer als befürchtet

Viersen. Blaue Kinderpullover baumeln aufgereiht unter freiem Himmel, daneben reihenweise rosa Söckchen. Dem Geschäft für Kindermoden in der Fußgängerzone von Viersen fehlen die Rückseite und ein Teil des Daches. Dafür klafft dort ein drei Meter tiefer Krater. An der Vorderseite in der Fußgängerzone sind die Schaufensterscheiben geborsten.

In der Nacht zu gestern ist in der niederrheinischen 75 000-Einwohner-Stadt 67 Jahre nach Kriegsende eine amerikanische 250-Kilo-Fliegerbombe mit extrem gefährlichem Säurezünder explodiert. Sie wurde zwar kontrolliert gesprengt, der Schaden ist trotzdem enorm. Die Fassaden der umliegenden Häuser sind voller Dreck bis hoch zum Giebel, Dachziegel und Fensterscheiben liegen zertrümmert in der Tiefe. 30 Kubikmeter Erde hatten die Kampfmittelexperten auf die Bombe geworfen, um die Wucht der Detonation zu mildern. Die Erde klebt nun an den noch stehenden Hauswänden und liegt wie ein Teppich über der Umgebung. Der Säurezünder hatte sowohl eine Entschärfung vor Ort als auch den Abtransport der Bombe unmöglich gemacht.

"Schäden waren nicht zu vermeiden. Aber ich bin schon ein bisschen traurig, dass so viel kaputtgegangen ist", sagt Dieter Daenecke, Leiter der Sprengung. Die kontrollierte Explosion der Bombe vor Ort sei unvermeidlich gewesen: "Da gibt es klare Anweisungen des Innenministeriums. Es gab beim Bewegen solcher Bomben schon mehrere Unfälle, zuletzt drei Tote in Göttingen 2010." Der Sprengkörper sei von den Bauarbeitern relativ stark bewegt worden und in eine Grube gerutscht. "Daher mussten wir davon ausgehen, dass der Langzeitzünder in Gang gesetzt wurde." Ein besonders tückischer Zünder: "Die Zünddauer liegt irgendwo zwischen 30 Minuten und 144 Stunden." Die Evakuierung sei also dringend notwendig gewesen. Für die 5000 Viersener, die sich in einem Radius von 500 bis 1000 Metern von der Fundstelle an der Gartenstraße entfernt befanden, waren es belastende Stunden: Sie hatten um 16 Uhr plötzlich alles zurücklassen müssen, was ihnen lieb ist. Es war völlig unklar, ob sie ihr Zuhause so wieder vorfinden würden. "Wir wussten bis zum Zeitpunkt der Sprengung um 23.05 Uhr nicht, was passieren wird", sagte Einsatzleiter Kersbaum. Beim Anbringen der zwei Sprengladungen, die um 23.06 Uhr ferngezündet wurden, befanden sich die Kampfmittelexperten in akuter Gefahr.

"Es hätte zu einem Albtraum werden können", sagte Viersens Bürgermeister Günter Thönnessen (SPD) am Kraterrand: "Ich bin gerade aus der Ukraine gekommen und am Flughafen gelandet, als ich den Anruf erhielt, und sofort hierhergerast. Die Sprengung ist relativ glimpflich abgegangen." Tausende konnten schon gegen Mitternacht zurück in ihre Wohnungen. "Niemand verletzt", das sei ein Erfolg der 900 Einsatzkräfte, die die Innenstadt evakuiert und abgeriegelt hatten.

Verletzt wurde auch Erna Junga nicht. Die 98-Jährige war eine von den 5000, die am Montagabend in Notunterkünfte gebracht worden waren. Bei ihr sitzt der Schock aber noch tief. "Ich habe schon einmal eine Flucht aus Schlesien erlebt - und dachte nicht, dass ich so etwas noch einmal durchmachen müsste", sagte Junga. "Haben wir wieder Krieg?" Die Baustelle, auf der der Blindgänger gefunden wurde, sieht tatsächlich aus wie ein Trümmerfeld. Dort hängt ein Großplakat, das am Tag nach der Explosion wirkt wie Galgenhumor: "Wir erweitern für Sie die Kinderstube." Wir, das sind Heike von Wirth und ihr Mann. Dem Ehepaar gehört der alteingesessene Viersener Kindermodeladen, der so stark zerstört wurde.

Am Tag nach der Explosion steht Inhaberin Heike von Wirth übernächtigt und blass vor den Überresten ihres Geschäfts. "Vermutlich müssen wir das Haus zur Hälfte abreißen", sagt sie "rp-online". Doch insgesamt ist der Schaden durch die Explosion weitaus geringer als der, den eine baugleiche Bombe Ende August in München verursacht hat. Auch dort waren Versuche, die 250 Kilogramm schwere Bombe im Zentrum der bayrischen Hauptstadt zu entschärfen, erfolglos geblieben. Die Druckwelle beschädigte Fassaden und Fenster, mehrere Dachstühle in der Umgebung gerieten in Brand.

Auch bei der Bombe in Viersen drohte diese Gefahr. Doch im Gegensatz zur Explosion in München blieben die Nachbarhäuser in Viersen von Bränden verschont. Hinter den Absperrgittern begannen gestern bereits die Aufräumarbeiten. Anwohner schaufelten sich durch den Sand einen Weg zu ihren Eingangstüren frei.

Ein Film zeigt das Trümmerfeld unter: www.abendblatt.de/viersen