Ein Insulaner tötete und verbrannte den Weltumsegler Stefan R. Dessen Partnerin schildert das Erlebte jetzt in einem Buch

München. Die Frau, die so Unfassbares erlebt hat, blättert in ihrem Buch, als ob die Geschichte, die darin erzählt wird, nichts mit ihr zu tun hätte. So komme es ihr tatsächlich vor manchmal, sagt Heike Dorsch, "dabei ist es ja meine Geschichte". Das Buch trägt den Titel "Blauwasserleben" (Malik-Verlag, 19,99 Euro), ein Begriff, der im Seglerjargon für ein Leben auf dem Wasser steht. Es ist ihr Buch. Es erzählt die Liebesgeschichte eines abenteuerlustigen Paares, das aufbrach, um die Welt zu umsegeln. Der Lebenstraum endete in einer Tragödie: Im Oktober 2011 wurde Heike Dorschs Lebensgefährte Stefan R. von einem Jäger auf der Südseeinsel Nuku Hiva getötet, zerstückelt und verbrannt. Der Fall des ermordeten Mannes aus Pinneberg sorgte weltweit für Schlagzeilen. "Kannibalen-Überfall - Deutscher in der Südsee aufgegessen?"

Zwar gehen die Ermittler heute davon aus, dass es nicht zum Kannibalismus kam. Dennoch wird Heike Dorsch selbst nie erfahren, was in den Stunden geschah, als ihr Freund mit jenem Mann auf Ziegenjagd ging, den das deutsche Paar einen Tag zuvor in einem kleinen Dorf auf der Marquesas-Insel kennengelernt hatte. Als der mutmaßliche Täter sie nach Anbruch der Dunkelheit unter dem Vorwand, ihr Freund habe einen Unfall erlitten und liege verletzt im Wald, vom Boot an Land lockte, folgte sie ihm. Dann bedrohte er sie, wollte sie vergewaltigen, fesselte sie, doch sie konnte fliehen und rettete sich auf das Boot eines niederländischen Paares. Vom Täter und dem Deutschen fehlte zunächst jede Spur. Drei Tage vergingen, bis Heike Dorsch erfuhr, dass ihr Stefan nicht mehr am Leben war. Im Urwald waren Polizisten auf eine ungewöhnlich große Feuerstelle gestoßen, in der sie verkohlte menschliche Überreste fanden. "Eine Zahnanalyse ergab, dass es Stefans Zähne waren", sagt Dorsch.

Der mutmaßliche Täter, er heißt Henri Arihano Haiti, tauchte erst sieben Wochen nach der Tat auf und sitzt derweil in Untersuchungshaft. Wann der Prozess beginnt, ist unklar. Die Beweislast ist erdrückend. Haiti verstrickt sich in Widersprüche. Er behauptet, den Deutschen aus Notwehr getötet zu haben, da dieser versucht habe, ihn zu vergewaltigen. Heike Dorsch schüttelt den Kopf. "Das ist alles so absurd, so unwirklich", sagt sie. Spürt sie Hass? "Nein, eigentlich spüre ich überhaupt nichts." Sie habe immer geglaubt, dass man ein Urteil bräuchte, eine juristische Aufarbeitung, um Frieden zu finden. "Heute weiß ich, dass es darum geht, loszulassen von dem Glauben, die Wahrheit käme eines Tages ans Licht. Ich werde nie genau erfahren, was in dieser Nacht geschehen ist. Damit muss ich leben, versuchen zu leben", sagt die 38-Jährige.

Sechs Monate nach der Tat kehrte sie erstmals wieder an den Unglücksort zurück - und fand Antworten auf Fragen, die sie beinahe verrückt machten. Eine scheinbar banale Frage trieb sie besonders um: "Sie lautete: 'Wo sind meine Schuhe geblieben?'", erzählt sie. Weiße, nachgemachte Crocs, die sie auf irgendeinem Hafenmarkt gekauft hatte. Sie hatte sie an Bord angezogen und später auf der Flucht verloren. "Da sie nicht gleich gefunden wurden, begann ich, an Details meiner eigenen Erinnerung zu zweifeln. Stellenweise hatte ich das Gefühl, verrückt zu werden." Immer wieder hatte sie die Polizisten gefragt, ob man ihre Schuhe gefunden habe. Als sie zur Rekonstruktion des Falls nach Nuku Hiva zurückkehrte, holte sie der Ermittler bei der Ankunft ab - man habe ihre Schuhe gefunden, sagte er. Sie wurden etwas abseits der Route, die sie beschrieben hatte, entdeckt, aber der Fundort weist darauf hin, dass ihre Angaben stimmen. "Ich hatte mein Vertrauen in mich selbst zurückgewonnen", sagt sie.

Bei einer Gegenüberstellung wenige Tage später traf sie erstmals auf jenen Mann, der ihren Geliebten tötete und auch sie um ein Haar umgebracht hätte. Sie fragte ihn, warum er Stefan das Leben nahm - und ihr nicht. Er habe die körperliche Kraft gehabt, sie zu töten, aber nicht die mentale, habe er gesagt.

Der 9. Oktober 2011 war der Tag, an dem Heike Dorsch ihre große Liebe verlor. Doch dann begriff sie, dass es zugleich der Tag war, an dem ihr ein zweites Leben geschenkt wurde - "erst seitdem trauere ich um Stefan". Vor den kommenden Monaten hat sie Angst, weil Ruhe einkehren wird. Momentan lebt die Diplom-Betriebswirtin, die bis zum Aufbruch der Weltreise im April 2008 als Produktmanagerin in Hamburg arbeitete, in einer WG in München und jobbt gelegentlich in einem Café. Weder ihre Mitbewohner noch ihre Arbeitskollegen wissen von ihrer Geschichte. "Wie soll man das auch erzählen?", fragt sie.