Fläche noch geringer als im Rekordjahr 2007. Forscher erwarten mehr Extremwetter in Europa

Hamburg/Boulder. Es ist noch schlimmer, als Wissenschaftler befürchtet hatten: Die Eisfläche der Arktis schmilzt in diesem Sommer so stark wie noch nie seit Beginn der Messungen. Der Meereis-Experte Lars Kaleschke vom Hamburger KlimaCampus hatte bereits Anfang August vorausgesagt, dass der bisherige Minusrekord aus dem Jahr 2007 wahrscheinlich gebrochen wird. Nun übertrifft die Entwicklung seine Prognosen sogar noch.

Nach Auswertungen von Satellitendaten des Schnee- und Eisdatenzentrums (NSIDC) in Boulder (Bundesstaat Colorado) sind nur noch 4,1 Millionen Quadratkilometer (km²) der Polarregion mit Eis bedeckt. Das sind 70 000 km² weniger als der niedrigste Wert aus dem Jahr 2007 - ein Schwund, der der Größe Bayerns entspricht. Ein Rekordminus von 4,1 Millionen km² hatte auch Lars Kaleschke vor drei Wochen prognostiziert.

Das Eis schmelze derzeit in einer Geschwindigkeit, die sonst nur im Juli zu beobachten sei, sagt Kaleschke: "Die Daten meiner US-Kollegen sind einige Tage alt - am Montag war die Eisfläche noch 3,94 Millionen km² groß, gestern war sie schon auf 3,85 Millionen km² geschmolzen. Das heißt, wir verlieren derzeit jeden Tag fast 100 000 km² Eis." Dabei ist die Talsohle noch gar nicht erreicht: Die Eisschmelze wird bis Mitte/Ende September andauern.

Mit wissenschaftlicher Sachlichkeit bezeichnet der Meereis-Forscher die alarmierenden Satellitendaten vom Nordpol als "interessante Zahlen". Kaleschke: "Wir machen derzeit ein riesengroßes Experiment mit der Erde. Wir können jetzt die Hypothesen zum Klimawandel, die bereits vor Jahrzehnten aufgestellt wurden, an der Realität überprüfen. Eine lautete, dass wir den Wandel zuerst in der Arktis beobachten werden. Und dies tun wir jetzt." Die Hauptursache sei, neben natürlichen Schwankungen, die durch den Menschen angestoßene Klimaerwärmung.

Neben der rasanten Eisschmelze registrieren die Forscher weitere ungewöhnliche Ereignisse in der Polarregion. Dazu gehört, dass das grönländische Eis in diesem Sommer auf 97 Prozent der Fläche angetaut ist, abzulesen an einer dunkleren Farbe. "Ein solch flächendeckendes Abtauen hatten wir zuletzt vor 150 Jahren, das zeigen Analysen von Eisbohrkernen", sagt Kaleschke. "Wenn sich dies in den kommenden Jahren wiederholt, wäre das ein starkes Signal für fundamentale Änderungen in der Arktis." Die sehen auch die US-Kollegen: "Die Arktis war früher von vielschichtigem Eis, oder Eis, das mehrere Jahre lang bestehen blieb, dominiert. Jetzt wird es mehr zu einer saisonalen Eisfläche, und große Teile werden im Sommer verschwinden", so NSIDC-Wissenschaftler Walt Meier.

Das hat Folgen für Mitteleuropa: "Wenn das Eis verschwindet, ist das ein globales Phänomen und wird sich wohl auch auf uns auswirken", sagt der Meereis-Physiker Rüdiger Gerdes vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Er nennt ein Beispiel: "Üblicherweise haben wir im Winter Winde, die aus dem Westen kommen und die uns feuchtwarme Luft bringen. Ein möglicher Effekt wäre, dass die nord-süd-gerichteten Winde verstärkt auftreten, die dann auch kalte Luft zu uns bringen. Die zurückliegenden kalten Winter sind deshalb möglicherweise mit dem Eisrückgang verbunden."

Lars Kaleschke rechnet damit, dass es in unseren Breiten mehr Extremwetterereignisse geben wird; dazu könnten auch kältere Winter zählen. Er wird die nächsten Wochen täglich die Meereisdaten des US-Satelliten auswerten. Und dabei wohl beobachten müssen, wie den Eisbären und Robben ihr Lebensraum unter dem Fell und den Pfoten weiter dahinschmilzt.