Selbst ernannter Prophet wollte in Russland Kalifat errichten. 70 Anhänger hausten in unterirdischem Labyrinth

Moskau. Sie folgten einem selbst ernannten Propheten und gruben sich acht Stockwerke in die Tiefe. Dort hausten die 70 Mitglieder einer muslimischen Sekte in der russischen Republik Tatarstan mehr als zehn Jahre, um die Vision von Faisachman Satarow, 83, von einem unterirdischen Kalifat zu leben. Gott habe ihm dazu den Auftrag erteilt, behauptet der greise Führer.

Ihre Zellen hatten kein Licht, keine Heizung, keine Lüftung. 27 Kinder wurden dort geboren, die selten das Tageslicht sahen. Sie gingen weder zur Schule (den Unterricht übernahm der "Prophet" persönlich), noch waren sie je bei einem Arzt. Mütter gebaren auf dem Grundstück, selbst die Gräber waren versteckt. In den Wohnzellen herrschten mittelalterliche Zustände, es gab weder Heizung, Strom noch eine Kanalisation. Der Geruch war ekelerregend.

Nun wurden sie aus den Höhlen geholt. Das jüngste Kind ist ein Jahr, das älteste 17 Jahre alt. Eine Jugendliche soll schwanger sein. "Sie sehen gut ernährt aus, aber schmutzig, deshalb mussten wir sie waschen", sagte Kinderärztin Tatjana Moros. Die Eltern verbargen ihr Misstrauen nicht. Die Mediziner "können doch mit ihnen machen, was sie wollen", sagte Fana Sayanova ängstlich. Die Kinder, die nicht in Kliniken behandelt werden, kamen in Waisenhäuser.

Das dreistöckige Haus des Sektenchefs mit Minarett, Brunnen und Dieselstation war mit einer hohen Mauer vor neugierigen Blicken abgeschirmt. Kaum eines der Sektenmitglieder durfte das Gelände verlassen, nur seine engsten Vertrauten ließ "Allahs Prophet" auf einem Markt arbeiten. Satarow muss sich nun wegen Vernachlässigung von Kindern vor der Justiz in der Provinzhauptstadt Kasan verantworten. Gegen die Sektenmitglieder, die sich "Muammin" (nach dem arabischen Wort für Gläubige) nennen, wurde unterdessen keine Anklage erhoben. Nach russischem Recht führt eine Anklage wegen Kindesmissbrauchs nicht unbedingt zu Verhaftung und Haftstrafe.

Auf die Spur der Untergrundsekte war die Polizei bei der Fahndung nach den Mördern eines hohen islamischen Geistlichen Tatarstans gekommen, dem stellvertretenden Obermufti Waljulla Jakubow, der im Juli in Kasan vor seinem Haus erschossen wurde. Obermufti Ildus Faisow wurde wenige Minuten später bei einem Sprengstoffanschlag schwer verletzt. Beide sind Salafisten, die für eine strenge Auslegung des Islam eintreten.

Islamische Theologen wiesen darauf hin, dass Satarow sich gegen die Prinzipien des Islam zum Propheten erklärt habe. "Der Islam sagt, dass es nach Mohammed keinen anderen Propheten gibt", erklärte der Theologe Rais Suleimanow. Satarows Lehren würden von traditionellen Muslimen abgelehnt. Da seine Sekte keine neuen Mitglieder mehr aufgenommen habe, sei sie "nur eine Gefahr für sich selbst und ihre Kinder".

2008 hatte der Sektenführer in einem Interview erklärt, dass er sich zu Sowjetzeiten von anderen Geistlichen und dem Staat losgesagt habe. Damals habe ihn der Geheimdienst KGB in muslimische Länder geschickt, um dort Propaganda über religiöse Freiheiten zu verbreiten. "Auf diese Weise wurde ich zu einem Diener Satans, zu einem Verräter", erklärte Satarow. "Als ich das begriffen hatte, habe ich Buße getan und begann zu predigen."

Der Fall weckt Erinnerungen an das "Drama von Pensa". Nahe der russischen Großstadt versteckten sich Ende 2007 etwa 30 Mitglieder einer Weltuntergangssekte mit ihren Kindern in einem Tunnelsystem. Erst nach Monaten ließen sich die selbstmordgefährdeten Anhänger eines halluzinierenden Führers aus ihrem Erdloch locken.