Belgier wütend auf Justiz. In einem Schuppen des Täters wurde weiteres Opfer entdeckt

Lüttich. Nach dem blutigen Amoklauf in Lüttich mischt sich in die Erschütterung der Belgier zunehmend Wut auf die Justiz. Denn angesichts der Details und Hintergründe der Tat, die nach und nach ans Licht kommen, drängt sich vielen die Frage auf: Wie konnte es sein, dass sich der 33 Jahre alte Täter Nordine Amrani, der sich nach dem Amoklauf selbst richtete, überhaupt auf freiem Fuß befand?

Schon als Jugendlicher war der Belgier marokkanischer Herkunft mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hatte unter anderem gestohlen und dafür Arbeitsstrafen ableisten müssen. 2003 wurde er wegen sexuellen Missbrauchs zu zwei Jahren Haft verurteilt. 2009 folgte eine Haftstrafe von 42 Monaten wegen Cannabis-Anbaus. Eigentlich hätte Amrani bis Ende September 2012 einsitzen müssen, hieß es gestern beim Berufungsgericht in Brüssel. Doch Amrani wurde unter Auflagen im Oktober 2010 vorzeitig auf freien Fuß gesetzt.

Dies ist in Belgien möglich, wenn die Täter Auflagen erfüllen, die ihnen das Berufungsgericht auferlegt. Amrani durfte keine Waffen mehr besitzen - zwischenzeitlich hatte er mehrere Tausend zu Hause gehortet -, musste einen festen Wohnsitz vorweisen, fing - da er arbeitslos war - eine Weiterbildung an und musste einen Entschädigungsplan für seine Opfer entwickeln. Außerdem hatte er sich regelmäßig bei einem Justizmitarbeiter zu melden und eine Therapie zu machen. An diese Auflagen hielt sich Amrani. "Es gab nie Schwierigkeiten", sagte der Präsident des Brüsseler Berufungsgerichts, Alex Delveaux. Sogar auf Drogentests wurde verzichtet, "weil es nie einen Verdacht gab".

Doch bei Amrani zu Hause schaute niemand vorbei. Keiner kontrollierte, ob er sich erneut Waffen beschafft hatte oder Cannabis bei sich zu Hause anpflanzte. "Das ist nicht üblich", sagt Delveaux. Auch Kontakt zwischen Therapeuten und Justiz gab es keine. Davon, dass Amrani etwa ein Jahr nach seiner Freilassung erneut mit dem Gesetz in Konflikt geriet und sich am Tag seines Amoklaufs dafür in Lüttich verantworten sollte, bekam beim Berufungsgericht in Brüssel bis zur Tat niemand etwas mit. Lüttich war zuständig. Nicht Brüssel. Selbst die belgische Regierung räumt mittlerweile ein, dass im Fall Amrani manches nicht so gelaufen ist, wie es hätte sein sollen. So kündigte das Justizministerium an, künftig deutlich härter gegen den Handel mit illegalen Waffen vorgehen zu wollen. Und auch die Überwachung von Rückfalltätern soll intensiviert werden.

Mit Rückfalltätern hat Belgien so seine Erfahrungen. Auch Marc Dutroux, einer der berüchtigtsten Kinderschänder Europas, in dessen Kellerverlies mehrere Mädchen starben, war vor deren Entführung bereits verurteilt worden. Auch er wurde zur Bewährung auf freien Fuß gesetzt.

Nach Angaben seiner Anwälte fühlte sich Amrani ungerecht behandelt. "Er konnte die Justiz nicht leiden. Er glaubte, er sei für einige Vorwürfe zu Unrecht bestraft worden", sagte einer seiner Anwälte, Jean-François Dister. Der Tod seiner Eltern habe ihn früh zur Waise gemacht. In Brüssel aufgewachsen, machte er eine Lehre in einem Metallberuf und wurde Schweißer. Er lebte mit seiner Freundin zusammen.

Bei dem Blutbad starben fünf Menschen, unter ihnen ein 18 Monate altes Kleinkind, 125 Menschen wurden verletzt. Bevor Amrani in der Innenstadt Amok lief, hatte er offenbar eine Frau getötet. Die Staatsanwaltschaft bestätigte, dass in seinem Schuppen die Leiche einer 45-Jährigen gefunden wurde. Amrani soll sein erstes Opfer regelrecht massakriert und möglicherweise vergewaltigt haben. Er habe die Putzfrau aus Vottem am Vormittag unter dem Vorwand in den Anbau gelockt, ihr Arbeit geben zu wollen, berichtete die "Sudpresse" unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft.