Spektakuläre Wende im Gerichtsverfahren gegen “Engel mit den Eisaugen“ in Italien. Amerikanerin kommt frei

Perugia. Nach mehr als vier Jahren im Gefängnis kommt die US-Amerikanerin Amanda Knox wieder frei. Ein Berufungsgericht in der italienischen Stadt Perugia hob gestern am späten Abend die langjährige Haftstrafe wegen Mordes gegen die 24-Jährige auf. Auch das Urteil gegen ihren Ex-Freund Raffaele Sollecito wurde gekippt.

Knox brach nach der Verlesung des Urteils in Tränen aus. Die im Gerichtssaal anwesende Familie der 2007 ermordeten 21-jährigen britischen Studentin Meredith Kercher zeigte sich entsetzt. Außerhalb des Gebäudes riefen einige der vielen Hundert Versammelten "Schande, Schande".

Amanda Knox war 2009 wegen der Ermordung Kerchers zu 26 Jahren Haft verurteilt worden, Sollecito zu 25 Jahren Haft. Beide hatten die Vorwürfe stets zurückgewiesen. Sie sollen in der Nacht zum 2. November 2007 in der Via Pergola Nummer 7 in Perugia Knox' britische Mitbewohnerin Kercher vergewaltigt, niedergestochen und ihr die Kehle durchgeschnitten haben. Eine Nachbarin will Kerchers durchdringende Todesschreie gehört haben. Über den genauen Tathergang und darüber, wer für den Mord verantwortlich ist, wird bis heute widersprüchlich diskutiert.

Amanda Knox hatte seit elf Monaten um einen Freispruch gekämpft. "Ich habe nicht getötet, ich habe nicht vergewaltigt, ich war nicht da", beteuerte sie kurz vor dem Urteil - den Tränen nah, mit unsicherer Stimme und in fast fehlerfreiem Italienisch. Die Amerikanerin legte häufig Atempausen ein und kämpfte gegen Tränen. Sie wolle nach Hause gehen und "zurück zu meinem Leben, meiner Zukunft". Ihr als Mittäter verurteilter italienischer Ex-Freund, Raffaele Sollecito, 27, hatte eine ähnliche Stellungnahme verlesen: "Ich habe niemals jemandem etwas getan."

Die Spannung war zuletzt bis ins Unerträgliche gestiegen. Dieselben Medien, die Amanda schon bald nach ihrer Festnahme vier Tage nach dem Mord zum diabolischen "Engel mit den Eisaugen" gemacht hatten, überschlugen sich in Spekulationen über einen möglichen Freispruch. Im Gerichtssaal erwarteten unter anderen Knox' Vater Curt Knox und dessen Ex-Frau Edda Mellas sowie Arline und Stephanie Kercher, Mutter und Schwester der Ermordeten, das Urteil. Das Gerichtsgebäude war seit den frühen Morgenstunden von mehr als 400 internationalen Reportern belagert. Der 427 Seiten starken Urteilsbegründung des Gerichts von 2009, in der von einem "einheitlichen und vollständigen Bild (von der Tat)" die Rede ist, hielten die Verteidiger "schlampige" Arbeit der Spurensicherung entgegen.

Von ihnen beauftragte unabhängige Gutachter hätten festgestellt, dass die auf dem mutmaßlichen Mordmesser gesicherten DNA-Spuren Amandas sowie der genetische Fingerabdruck Raffaeles an einem Büstenhalter der Getöteten verunreinigt seien. Man könnte sogar "mehrere genetische Profile" darin erkennen.

Damit nicht genug: Der blutige Pullover des Opfers tauchte 48 Tage nach dem Mord in einem Wäschekorb wieder auf. "Der hätte gut aufbewahrt werden müssen, anstatt in der schmutzigen Wäsche zu landen", so Walter Patumi, Gerichtsmediziner und Zeuge der Verteidigung. Die Mordmatratze konnte schon kurz nach der Tat von dem angeblich "abgesicherten" Tatort gestohlen werden. Belastungszeugen der Anklage - wie etwa der zuvor in einem Schnellverfahren zu 16 Jahren wegen Beihilfe in dem Mordfall verurteilte Ivorer Rudy Guede - widersprachen sich mehrfach.

Die Staatsanwälte forderten dennoch eine lebenslange Haftstrafe für das Paar. Die Verteidigung mache sich einer "Verdrehung der Tatsachen" schuldig. Sie pochen neben den DNA-Proben auf ein (später widerrufenes) Geständnis Amandas aus den ersten Stunden nach der Festnahme.

Sie sei, des Italienischen damals nicht mächtig, missverstanden und unter Druck gesetzt worden, distanzierte sich die Amerikanerin mehrfach von den Aussagen. Doch ihre Beschuldigung eines kongolesischen Barmanns, der deswegen zwei Wochen hinter Gitter kam, bevor ihn ein Kunde seines Lokals entlastete, bleibe verdächtig, so die Staatsanwälte.

"Die Frage ist in Wirklichkeit nicht, ob Amanda und Raffaele schuldig oder unschuldig sind, sondern, ob genügend Beweise für ihre Schuld existieren", kommentierte die römische Tageszeitung "La Repubblica" noch gestern.