Ein Hamburger war mittendrin, als in Tokio die Erde bebte. Er schildert die dramatischen Stunden von Big One

Es ist 6.59 Uhr am gestrigen Freitagmorgen nach deutscher Zeit, als die Detektoren auf der 2962 Meter hohen Zugspitze die erste Erschütterung aus dem Fernen Osten registrieren. In den nächsten rund 30 Minuten zeichnen die empfindlichen Messgräte dann immer neue Rekordausschläge auf. Überall in Bayern bewegt sich der Boden um ein paar Millimeter, wenn auch für den Menschen nicht spürbar. Aber den Mitarbeitern des Landesamtes für Umwelt (LfU) ist sofort klar, dass es sich um ein gewaltiges Erdbeben handeln muss. "Seitdem messen wir noch immer weitere Erschütterungen, die durch die Nachbeben hervorgerufen werden", sagt LfU-Präsident Albert Göttle später. Die Wellen erreichen die Messstationen allerdings mit einer Zeitverzögerung von 13 Minuten.

Als sich das Beben 382 Kilometer nordöstlich von Tokio vor der Küste in einer Tiefe von 24,4 Kilometern ereignet, dauert es mehrere Augenblicke, bis Christian Rudelt begreift, was passiert. Es sind jene Sekunden, in denen Papierstapel aus Regalen fallen, Kaffeebecher zerspringen, Kopierer und Stühle durchs Büro rollen, Lichter flackern; Momente, in denen der Boden unter den Füßen nachzugeben scheint. Rudelt handelt im Affekt, sucht wie seine Kolleginnen und Kollegen zunächst Schutz unter dem Schreibtisch, greift zum Helm, der für den Fall eines Erdbebens in jedem japanischen Büro bereit liegt und setzt ihn sich auf. "Aber ich weiß nicht mehr, was genau ich in jenen Momenten gefühlt habe. Es geschah alles so plötzlich, war so irreal", sagt er, noch unter Schock.

Seit April vergangenen Jahres lebt der 32 Jahre alte Hamburger in der japanischen Hauptstadt, wo er als Referent und Projektleiter für das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) arbeitet. Sein Unternehmen teilt sich mit der Industrie- und Handelskammer die fünfte Etage des modernen, erdbebensicher gebauten Bürokomplexes im Stadtteil Chiyoda, ganz in der Nähe zu Regierungsgebäuden und internationalen Botschaftsgebäuden. Einige der Mitarbeiter, sagt Christian Rudelt, hätten schon Erdbeben erlebt. "Aber eines in dieser Größenordnung war neu für sie."

Die Menschen kauern unter ihren Schreibtischen, beraten, was zu tun ist, während das Bürogebäude wie von einer Riesenfaust hin- und hergeschüttelt wird. Minutenlang. "Niemand wurde panisch", berichtet Rudelt, "aber Angst, ja, die haben wir alle gehabt." Als die Erdstöße einmal nachzulassen scheinen, entscheiden sie sich zur Flucht durchs Treppenhaus, raus auf die Straße. Dort treffen sie auf größere Menschengruppen, die sich von Polizisten erstaunlich ruhig und diszipliniert zu sicheren Orten leiten lassen. Christian Rudelt weiß, dass Japan gegen Naturgewalten dieser Art aufgerüstet hat und Tokio, das im Jahre 1923 durch ein ähnlich schweres Erdbeben in weiten Teilen zerstört wurde, ganz besonders. Damals starben 140 000 Menschen.

Japan liegt auf dem Vulkangürtel des "Pazifischen Feuerrings", wobei ausgerechnet Tokio sich in einer der gefährlichsten Gegenden befindet: fast genau auf dem Punkt, an dem drei Kontinentalplatten aneinander stoßen. Seismologen zufolge ist das "Big One" - ein massives Erdbeben nahe Tokio - längst überfällig gewesen. Erst zwei Tagen zuvor hat ein Beben der Stärke 7,3 das Land erschüttert, aber keine Schäden angerichtet - und davor war das schwere Beben von Christchurch in Neuseeland. Die fragile Erdkruste scheint derzeit hyperaktiv zu sein.

Auf den Straßen Tokios machen erste Gerüchte die Runde: Gebäude seien eingestürzt, zahlreiche Menschen seien tot, verletzt, verschüttet. Und die Behörden hätten bereits eine Tsunami-Warnung gegeben.

Christian Rudelt kann in seiner direkten Umgebung keine Zerstörungen erkennen, obwohl die Erde weiter bebt. Immer wieder versucht er, seine Frau Anne zu erreichen. Ihre Wohnung liegt rund acht Kilometer entfernt im Stadtteil Shinjuku. "Sie wollte mit der U-Bahn nach Midtown fahren", sagt Rudelt, "ich hatte Angst, dass sie dort festsitzt."

Doch das Handynetz ist überlastet, bricht immer wieder zusammen. Auch aus Deutschland, wo jetzt die ersten Meldungen über ein "massives Erdbeben" verbreitet werden, wo die ersten Bilder der Katastrophe von den Nachrichtensendern ausgestrahlt werden, versuchen inzwischen Tausende Japaner, vor allem in den Hochburgen Düsseldorf und Hamburg, ihre Verwandten und Freunde auf den Inseln zu erreichen. So wie Yasuko Hosoi, die es erst nach vielen Minuten bangen Wartens schafft, eine Verbindung zu ihren Eltern zu bekommen, die gefährlich nahe am Meer wohnen. "Meinen Eltern geht es gut", sagt die Japanerin, die seit eineinhalb Jahren in Düsseldorf lebt, "doch sie haben erzählt, dass viele Menschen in Panik auf die Straße gerannt und das Häuser eingestürzt seien und dass es überall brenne." Immerhin funktioniert noch das Internet. So kann auch Rudelt seiner Frau eine E-Mail schicken: "Wir sind evakuiert. Mir geht es gut." Sie antwortet ihm sofort. Sie sei zu Hause geblieben. Rudelt atmet auf.

Nach einer Stunde lassen die Erdstöße erstmals nach. Vereinzelt wagen sich die Menschen zurück in ihre Büros, auch Rudelt. Die U-Bahn fährt nicht mehr, der Straßenverkehr ist zusammengebrochen. Rund zehn Millionen Pendler, die im Großraum Tokio mit seinen rund 30 Millionen Einwohnern oft stundenlange Wege zum Arbeitsplatz auf sich nehmen müssen, sind gestrandet - so wie 13 000 Menschen auf dem Tokioter Flughafen Narita.

Über Lautsprecher und das Fernsehen werden die Menschen aufgerufen, in der Nähe ihrer Arbeitsstellen zu bleiben, anstatt den Weg nach Hause zu wagen. "Bitte erzwingen Sie nicht ihren Nachhauseweg, wenn es keine Transportmittel gibt! Bleiben Sie in Ihren Büros und an anderen sicheren Orten", sagt ein Moderator im Fernsehen. "Doch kaum war ich oben, fing das Beben wieder an", sagt Rudelt. Er rennt erneut herunter auf die Straße. "Ich konnte einfach nicht in diesen Räumen mit den großen Glasfronten bleiben. Die Situation war einfach zu beklemmend."

Rudelt entschließt sich, entgegen aller Warnungen, sich zu Fuß nach Hause durchzuschlagen.

Etwa zu diesem Zeitpunkt rollt nördlich der Hauptstadt eine zehn Meter hohe Wasserwand auf die Küste der japanischen Hauptinsel Honshu zu. Es scheint, als habe sich der Tsunami Sendai als Opfer gewählt. Die Hauptstadt der Präfektur Miyagi, nahe des Epizentrums gelegen, gilt als eine politische, ökonomische und kulturelle Metropole, eine "Stadt der Bäume". Im zweiten Weltkrieg wurde Sendai durch amerikanische Luftangriffe bereits einmal stark zerstört. Jetzt verrichtet der Tsunami ganze Arbeit: Die Flutwelle reißt Häuser, Schiffe und Autos mit, drückt Uferbefestigungen ein, radiert ganze Fischerdörfer aus, und dann ergießt sich ein reißender Fluss voller Trümmer über Felder bis in die Stadt hinein. Aus den Kameras der Hubschrauber, die über dem Inferno kreisen, werden gestochenen scharfe Bilder dieser apokalyptischen Szenen live ins Fernsehen übertragen.

Ein Junge wird von den Wassermassen mitgerissen, ein alter Mann wird von einer einstürzenden Mauer erschlagen, eine ältere Frau unter einem Dach begraben: Die Befürchtungen wachsen, dass die Zahl der Opfer noch weit über die mehreren Dutzend Toten hinausgeht, von denen man bis zum frühen Abend japanischer Ortszeit berichtet. Dann steigen die Opferzahlen im Fünf-Minuten-Takt. Inzwischen rechne man mit weit über tausend Toten, heißt es, doch in der Nacht zum Sonnabend und in den kommenden Tagen werde diese Zahl wohl leider noch enorm ansteigen, lautet die Befürchtung.

"Ich habe so etwas noch nie gesehen", sagt Ken Hoshi, ein örtlicher Regierungsbeamter in der benachbarten Hafenstadt Ishinomaki. "Das Wasser kam bis zur Bahnstation." Diese liegt Hunderte Meter von der Küste entfernt. Tatsächlich ergießt sich die Flutwelle mancherorts bis zu fünf Kilometer tief ins Landesinnere.

Auch in der Präfektur Ibaraki im Großraum Tokio treiben Häuser durch die Stadt, schwimmen Autos in den Fluten. Das Erdbeben hat Krater in die Straßen gerissen, Gullydeckel und die darunter liegenden Rohre wie Türme aus dem Boden gedrückt. Weil auch Gasleitungen geborsten sind, brechen immer wieder Feuer aus. In der Präfektur Chiba bei Tokio steht eine Ölraffinerie in Flammen, im Nordosten brennt das Turbinengebäude des Atomkraftwerks Onagawa, in der gleichen Region wird die Evakuierung von 2000 Anwohnern des Meilers Fukushima Daiichi angeordnet. Gegen Abend verstärkt sich die Befürchtung, dass die von Nuklearanlagen ausgehenden Risiken gravierender sind als bisher angenommen: Sowohl im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi als auch in der Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho gibt es Probleme mit der Kühlung der atomaren Brennstäbe. Die japanische Atomaufsichtsbehörde NISA bestätigt, dass der Kühlwasserspiegel in dem 250 Kilometer nördlich von Tokio gelegenen AKW Fukushima Daiichi sinkt. Der Grund sei die unterbrochene Wasserzufuhr zum Reaktor. Dem Betreiberunternehmen sei es nicht gelungen, die Stromversorgung für das Kühlwassersystem wieder herzustellen. Bundesumweltminister Norbert Röttgen spricht bereits von einer "ernst zu nehmenden Situation, die äußerstenfalls bis zur Kernschmelze gehen könne". Der Begriff "Risikotechnologie" im Zusammenhang mit der Nutzung von Kernenergie ist scheinbar doch keine leere Worthülse.

Die japanische Armee schickt ab Mittag Truppen in die Katastrophengebiete. Auf der ganzen Welt treten die Staatschefs und -chefinnen vor die Mikrofone, verweisen auf ihre uneingeschränkte Solidarität mit dem Land und bieten ihre Hilfe an. "Japan soll wissen, dass Deutschland in dieser schwierigen Stunde an seiner Seite steht", sagt Angela Merkel am Freitag in Brüssel. Die Kanzlerin spricht von einer "schweren, außergewöhnlich schwierigen Stunde" für die Menschen in Japan. Das ganze Ausmaß der Katastrophe sei jedoch noch nicht absehbar. Deutsche Experten des Technischen Hilfswerks seien bereits auf dem Weg nach Fernost. Alle deutschen in Japan ansässigen Firmen sind offenbar glimpflich davon gekommen.

Auch Christian Rudelt ist unterwegs. Für die letzten vier Kilometer leiht er sich das Fahrrad eines Kollegen. "Es war eine Fahrt durch ein stillgelegtes, ein dunkles und gespenstisches Tokio", erzählt er. Er hofft, dass so bald wie möglich so etwas wie Normalität zurückkehrt. Doch nicht nur er weiß, dass dies zu diesem Zeitpunkt nur eine vage Hoffnung ist. Mehr nicht.