Nuklearanlage von der Stromversorgung abgeschnitten. Überhitzt der Reaktor? Japans Ministerpräsident ruft Atomalarm aus

Fukushima. Das Erdbeben in Japan hat weltweit Ängste vor einer nuklearen Atomkatastrophe ausgelöst. Nach dem Ausfall der Hauptkühlsysteme und der Stromversorgung in mindestens zwei Reaktoren des Kraftwerks Fukushima sprachen Experten von einem "beängstigenden Rennen gegen die Zeit". Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagte am Freitagabend, im äußersten Fall sei sogar eine Kernschmelze in bis zu drei Reaktorblöcken der Anlage möglich. Wie ernst die Lage ist, zeigte sich auch daran, dass die japanischen Behörden umgehend einen Radius von zunächst drei Kilometern rund um das Kraftwerk evakuiert haben. Knapp 6000 Menschen waren davon betroffen.

Bis zum Sonnabend (Ortszeit) spitzte sich die Lage weiter zu: Die japanische Atomsicherheitsbehörde kündigte an, sie werde nach dem Versagen des Kühlsystems im Atommeiler Fukushima leicht radioaktiven Dampf aus einem Reaktorbehälter lassen. Der Druck in einem der sechs Behälter sei auf das Anderthalbfache des Normalstands, die Radioaktivität im Kontrollraum des Meilers auf das 1000-Fache des Normalwerts angestiegen. Premierminister Naoto Kan weitete die Evakuierungs-Zone daraufhin auf einen Radius von zehn Kilometern um das Kraftwerk aus.

Schon zuvor hatte Kan den Atomalarm ausgerufen. Denn nach dem schweren Beben war die Anlage praktisch ohne Strom - nur mit Notbatterien versuchte der Betreiber, den Kühlwasserkreislauf aufrechtzuerhalten. "Die Situation hat sich dramatisch zugespitzt", sagte Beate Kallenbach-Herbert, Bereichsleiterin Nukleartechnik und Anlagensicherheit am Ökoinstitut Darmstadt. "Wenn es nicht gelingt, mithilfe von Dieselgeneratoren die Stromversorgung sehr schnell zu stabilisieren, dann wäre dies der schlimmste Fall, den man sich vorstellen kann."

Die Sicherheitsexpertin meint damit eine Kernschmelze, die große Mengen Radioaktivität freisetzen würde, wie dies am 26. April 1986 im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl geschah. Dann wären bei ungünstigen Winden auch die Einwohner der 20-Millionen-Metropole Tokio durch Radioaktivität bedroht - der Reaktor befindet sich knapp 300 Kilometer von ihnen entfernt.

Drei der sechs Reaktorblöcke waren zum Zeitpunkt des Erdbebens nicht in Betrieb, da eine Routine-Inspektion durchgeführt wurde. Von ihnen geht zunächst keine Gefahr aus. Doch in den anderen drei Reaktoren liefen die nuklearen Kettenreaktionen auf vollen Touren. Sie wurden, wie alle anderen Kernkraftwerke, nach dem Beben automatisch heruntergefahren.

Aber damit sei nur die Kettenreaktion unterbrochen, die Gefahr eines GAUs, eines größten anzunehmenden Unfalls, jedoch nicht gebannt, erklärte Kallenbach-Herbert: "Auch wenn die Kernspaltung unterbunden ist, zerfallen die zuvor entstandenen atomaren Bruchstücke weiter. Dabei entsteht sehr viel Wärme, die über den Kühlkreis abgeführt werden muss. Geschieht dies nicht, heizt sich das Kühlmittel so lange weiter auf, bis es schließlich verdampft. Dadurch erhitzen sich die Brennelemente dann so stark, dass die Hüllrohre der Elemente zerstört werden und der pulvrige Brennstoff zu Boden fällt. Der geschmolzene Brennstoff ist so heiß, dass er den Boden des Reaktors schmelzen und die Sicherheitshülle des Reaktors zerstören kann."

Die Hitze des Reaktorkerns lässt das Kühlwasser verdampfen. Am Freitagabend kämpften die Experten gegen einen absinkenden Kühlwasserspiegel und ansteigenden Druck in mindestens zwei Reaktoren. Um das Schlimmste zu verhindern, holte das Betreiberunternehmen Tepco (Tokyo Electric Power Company) mehrere Generatorenfahrzeuge herbei. Doch scheiterte ihr Einsatz nach Angaben der japanischen Atomaufsichtsbehörde Nina (Nuklear and Industrial Safety Agency) daran, dass ein passendes Kabel fehlte. Als weitere Hilfsmaßnahme schickten die USA Kühlmittel nach Japan.

Insgesamt sind in Japan 54 Kernreaktoren am Netz. "Wie kann man in Erdbebengebieten Atomkraftwerke bauen?", kritisiert der Greenpeace-Energie-Experte Christoph van Lieven. Zwar habe das Land eine Regelung, dass die Anlagen auf ein Erdbeben der Stärke 8,25 eingerichtet sein müssen. Dieses Beben aber habe die Stärke 8,9 erreicht. "Es funktioniert einfach nicht, die Natur an die Statistik anpassen zu wollen", kritisierte van Lieven. Schon heute beziehe Japan 30 Prozent seines Strombedarfs von Kernkraftwerken. Die Pläne der Regierung, diesen Anteil weiter auf 50 Prozent zu erhöhen und dafür 14 neue Kraftwerke zu bauen, seien nicht vertretbar.

Auch die Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho im Nordosten Japans musste nach dem Beben mit Notstrom gekühlt werden. "Hier liegen rund 3000 Tonnen hoch radioaktiver abgebrannter Brennstoff", sagte der international tätige Atomexperte Mycle Schneider der Nachrichtenagentur dapd. Das entspreche etwa der Menge an Brennstoff, die in 25 bis 30 Atomreaktoren gelagert wird. Die Notstrom-Dieselgeneratoren seien aber nicht darauf ausgelegt, langfristig zu laufen, sagte Schneider. In einem zweiten Atommeiler nahe der Stadt Onagawa brannte nach dem Beben das Turbinenhaus, vermutlich ohne dass Radioaktivität ins Freie gelangt ist.

Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA ist wegen der Lage im japanischen Atomkraftwerk Fukushima in voller Alarmbereitschaft. Man beobachte die Situation genau, teilte die UN-Behörde in Wien am Freitagabend mit.