Das Erdbeben von Lissabon 1755 tötete nicht nur 100 000 Menschen, sondern prägte wie keine andere Katastrophe Glauben und Denken in Europa

Der Knabe war nicht wenig betroffen", schildert Goethe seine Reaktion auf das wichtigste weltgeschichtliche Ereignis seiner Kindheit. "Vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet. Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen ..."

Als der Dichter diese Erinnerungen 1811 notiert, liegt das verheerende Unglück schon länger als ein halbes Jahrhundert zurück, doch die von ihm verursachten Verwerfungen in der Welt des Geistes dauern an, und sie werden noch Jahrhunderte nachwirken - bis heute: Keine andere Naturkatastrophe hat das Denken der Menschen stärker verändert als das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 mit seinen Feuersbrünsten, Flutwellen und 100 000 Toten.

Die Fragen einer alten Theologie und einer jungen Aufklärung entsprechen den Zweifeln des damals sechsjährigen Goethe: Wie kann ein allmächtiger, gütiger Gott so etwas zulassen? Warum ausgerechnet an Allerheiligen? Warum trifft die Strafe Sodoms und Gomorrhas ausgerechnet die Hauptstadt eines so frommen Landes, dessen Missionare den Samen des Evangeliums auf der ganzen Welt säen? Und warum sinken Lissabons Kathedralen in Schutt und Asche, während das berüchtigte Vergnügungsviertel im Stadtteil Alfama mit seinen Bordellen und Räuberhöhlen auf wundersame Weise verschont bleibt?

Was die Gemütsruhe des Knaben Johann Wolfgang "zum ersten Mal im Tiefsten erschüttert", reißt auch die Thesen und Gedankengebäude Erwachsener nieder: Nach der Flutwelle auf dem Tejo rollt ein Tsunami kontroverser Theorien durch Europa. Der Glaube an einen gerechten Gott gerät ebenso ins Wanken wie die bis heute aktuelle Vorstellung einer harmonischen, heilen Natur, deren Ordnung nur der Störfaktor Mensch gefährde.

Die schon seit der Antike heftig diskutierte, vom Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz "Theodizee" - Rechtfertigung Gottes - genannte Frage nach der Verantwortung des Schöpfers für das Böse wird neu gestellt. Der Streit um göttliche All- und Ohnmacht entzweit Theologie und Philosophie für immer. Die Glaubenslehrer wollen ergründen, welche Schuld das Strafgericht herabgerufen habe. Die Weisheitsfreunde wiederum versuchen den Fortschrittsoptimismus einer neuen Rationalität zu retten, wonach die Göttin der Vernunft schon alles zum Rechten und Besten fügen werde.

Die christliche Ursachenforschung hält am Bild des strafenden Schöpfers fest, lässt allerdings konfessionelle Unterschiede erkennen: Katholiken geben Gottlosigkeit und Sünde die Schuld an der Katastrophe, Protestanten sehen die Ursachen eher im Aberglauben und den Gräueln der Inquisition.

Auch in der Philosophie ringen gegensätzliche Geister. Der vielgelesene Voltaire konzipiert seine Novelle "Candide oder der Optimismus" als bissige Satire auf die Ansicht des Universalgenies Leibniz, wonach die existierende Welt die beste aller möglichen und Gott deshalb nichts anzulasten sei. Theodor Adorno wird 1966 schreiben, das Erdbeben von Lissabon habe den Franzosen von der Theorie des Deutschen geheilt.

Mit Rousseau legt sich Voltaire über die Frage des Schlechten in der Welt an: Der berühmte Aufklärer, Forscher und Pädagoge sieht in der Natur einen Ausdruck höheren Willens, dessen Heilsplan nur der Mensch mit seiner schädlichen Zivilisation verderbe. Für den desillusionierten Schriftsteller dagegen ist alles nur noch ein "trauriges Spiel des Zufalls": "Einhunderttausend Ameisen, unser Nächster, sind auf einen Schlag in unserem Ameisenhaufen umgekommen, von denen die Hälfte unter unsäglichen Ängsten unter den Trümmern starb, aus denen man sie nicht befreien konnte", klagt er in einem Brief. "Welch trauriges Glücksspiel ist das menschliche Leben!"

Rosseau reagiert kühl mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit besseren Städtebaus. Adorno stellt das Beben von Lissabon später neben den Holocaust: Beide Katastrophen seien so groß gewesen, dass sie die europäische Kultur und Philosophie transformiert hätten. Der Literaturtheoretiker Werner Hamacher meint, die epochale Erderschütterung habe auch die Philosophie des frühzeitlichen Rationalisten René Descartes ("Ich denke, also bin ich") ins Schlingern gebracht und sogar auf das philosophische Vokabular eingewirkt. So sei etwa die häufig benutzte Metapher "feste Grundlage" seither zur Worthülse degradiert.

Wissenschaft, Kunst, Literatur - in alle Tätigkeitsfelder menschlichen Geistes gräbt das Menetekel von Europas Südwestecke tiefe Spuren. Der junge Immanuel Kant ist so fasziniert, dass er eine abenteuerliche Theorie über riesige, mit heißen Gasen gefüllte Höhlen unter dem Meeresboden ersinnt - immerhin der erste Versuch, Erdbeben naturwissenschaftlich zu erklären. Später wird der große Vernunftkritiker aus Königsberg verkünden, dass die Wahrheit nur ein subjektiver Eindruck, nur ein Schein sei. Heinrich von Kleist ist von dieser Position des Philosophen so erschüttert, dass er in seiner Novelle "Das Erdbeben von Chili", die Schreckensbilder vor Augen, den von ihm ersehnten "mündigen, frei denkenden Menschen" zum macht- und hilflosen Opfer des Schicksals erklärt.

Portugals Premierminister Sebastião de Mello, später zum Marquis de Pombal hochgeadelt, verbindet dieses freie Denken mit praktischem Sinn: "Und nun? Beerdigt die Toten und ernährt die Lebenden!" Er lässt Leichen im Meer versenken, schickt Soldaten in die Brände, stellt Galgen für Plünderer auf und versöhnt Glaube und Wissenschaft mit der originellen Idee, die Pfarrer des Landes um Informationen über das Beben und seine Folgen zu bitten: Dauer, Anzahl der Nachbeben, Schäden, Verhalten der Tiere, Besonderheiten in Brunnen. Aus den Meldungen der Seelenhirten formt sich ein bis heute erhaltenes Lagebild - es ist der erste Schritt zur modernen Seismologie.

Der kluge Politiker versteht die Katastrophe vor allem als Chance zur Verwirklichung aufgeklärter Visionen: Aus verwinkelten Gassen werden breite Straßen, aus verkrusteten Strukturen erste Gliederungen einer modernen Gesellschaft frei von überlebtem Adel und erstarrter Kirche, und es beginnt Portugals letzte Glanzzeit. Noch 1931 setzt ihm Reinhold Schneider in seiner Erzählung "Das Erdbeben" ein Denkmal.

Auch die modernen Massenmedien sind in den Trümmern Lissabons geboren: Hunderte Zeitungen, Zeitschriften und Bücher zehren noch Jahrzehnte von dem schaurigen Spektakel. Die erste Klatschpresse schwelgt in Schilderungen, wie der König samt Familie halbnackt aus dem Palast flüchtet und danach bis zu seinem Tod 26 Jahre lang in einem Zelt schläft.

Moses Mendelssohn belegt mit dem weltweiten Interesse an dem Erdbeben von Lissabon seine Theorie des ästhetisch angenehmen Grauens: Nach dem Berliner Philosophen "verspühret jeder Mensch einen starken Trieb, das geschehene Übel in Augenschein zu nehmen und der vermischten Empfindung zu genießen, die ein solcher Anblick gewährt". Der Franzose Jacques Philipp Lebas publiziert sechs Kupferstiche mit zerstörten Gebäuden Lissabons - die "schönen Ruinen" erreichen Riesenauflagen in ganz Europa und machen den Künstler reich.

Das 21. Jahrhundert stillt den Schautrieb mit Fernsehbildern und lässt sich erschrocken daran erinnern, dass Erdbeben wie einst in Lissabon und jetzt in Japan immer auch die Grenzen menschlicher Macht und Möglichkeiten vor Augen führen. Selbst wenn manche Klima- und Umweltschützer tun, als sei allein der Mensch der Feind einer idealen Erde: Beben und Tsunamis, Tornados und Vulkanausbrüche sind und bleiben ganz normale, unkontrollierbare Erscheinungen, solange der blaue Planet seine Bahn um die Sonne zieht.