Kläger sieht bei Schering-Arznei Parallelen zum Contergan-Skandal. Gericht: Verjährt

Berlin. Es ist wie der Kampf Davids gegen Goliath: Der Lehrer André Sommer will ihn auch trotz einer ersten Niederlage nicht aufgeben. Er wird weiter gegen den Pharmakonzern Bayer Schering vor Gericht ziehen. In erster Instanz hat der Allgäuer gestern vor dem Berliner Landgericht verloren. Dabei geht es in der Musterklage des seit der Geburt behinderten Mannes in erster Linie um Akteneinsicht.

Sommer will erfahren, ob seine Missbildungen von einem Medikament stammen, das seine Mutter 1975 als Schwangerschaftstest bekam. Die heute üblichen Urintests gab es damals noch nicht. Der 34-Jährige aus Pfronten hat einen künstlichen Blasenausgang. Er hat seit seiner Geburt zahllose Operationen hinter sich bringen müssen.

Etwa 1000 Menschen sollen durch das Hormonmittel Duogynon geschädigt worden sein. Ein kleinwüchsiger Ingenieur, der sich gleichfalls als Opfer des Medikaments sieht und auf der Zuschauerbank saß, konnte das Urteil von Richter Udo Spuhl nicht fassen. Der Vorsitzende erklärte alle Schadenersatzansprüche für verjährt. Daher bestehe kein Anspruch auf Auskunft über die Wirkung des Hormonmittels Duogynon (Aktenzeichen: 7 O 271/10).

In den 60er- und 70er-Jahren hatten viele Mütter, deren Kinder mit schweren Fehlbildungen wie einen Wasserkopf, einen offenen Bauch, offenen Rücken oder Missbildungen der inneren Organe und Extremitäten geboren wurden, in der Frühschwangerschaft das Medikament genommen. Der Medizinrechtfachanwalt Heynemann: "Viele Frauen hatten auch Fehlgeburten, oder das behinderte Kind starb kurz nach der Geburt."

Duogynon kam sowohl als Schwangerschaftstest als auch gegen ausbleibende Regelblutungen zum Einsatz. In Deutschland wurde es bis in die späten 70er-Jahre verabreicht. In Großbritannien hatte es Schering schon Jahre vorher nicht mehr als Schwangerschaftstest angeboten, nachdem der Missbildungsverdacht laut wurde. Vor vier Jahren hatte die Bayer AG aus Leverkusen Schering übernommen.

30 Jahre nach Verabreichung des Medikaments sind Ansprüche verjährt

Maßgeblich für die Entscheidung des Gerichts war, dass nach Auffassung der 7. Zivilkammer sämtliche Schadenersatzansprüche im Jahr 2005 - also 30 Jahre nach Verabreichung des Medikaments - erloschen sind. Richter Spuhl betonte, dass nicht zu entscheiden war, ob Duogynon Schäden bei Sommer verursacht hatte. Das Aufklärungsinteresse sei menschlich verständlich, aber nach dem Gesetz nicht durchsetzbar.

Sommer, der in einem Dorf im Allgäu lebt, konnte nicht selbst zum Verkündungstermin nach Berlin kommen. Für Anwalt Jörg Heynemann fiel die Entscheidung nicht überraschend aus. Der Jurist vertritt aber die Auffassung, dass keine Verjährung vorliegt. "Die Chancen stehen nach wie vor gut für uns", sagte er dem Abendblatt. Denn der jüngste Schaden sei 2005 entstanden. Da habe sich Sommer wegen seiner Missbildungen einer großen Operation unterziehen müssen, argumentiert der Anwalt. Er wird seinen Mandanten in die nächste Instanz begleiten.

Zu Beginn des Zivilstreits Ende November hatte Sommer dem Pharmakonzern vorgeworfen, nicht zum Dialog bereit zu sein. "Meine Missbildungen werden nie verjähren, ich werde wieder operiert", beklagte Sommer. "Warum legt Bayer die Akten nicht offen, wenn es keinen Zusammenhang mit Duogynon gibt?" Seit Juni habe er eine Flut von E-Mails bekommen von Betroffenen, die ebenfalls wissen wollen, ob ihre Behinderungen auf dieses Präparat zurückzuführen sind. Sie sehen Parallelen zum Contergan-Skandal.

Rocksängerin Nina Hagen, 55, ist seit Jahren mit Opfern befreundet und engagiert sich für sie. "Ich bin tief berührt vom Schicksal André Sommers, der anderen Opfer und ihren Familien." Der Staat müsse die Forschungsergebnisse einfordern.

Bayer Schering hatte keinen Vertreter zum Urteil geschickt. Das Unternehmen weist die Vorwürfe zurück. "Das Thema wurde in den 60er- und 70er-Jahren juristisch und wissenschaftlich ausgiebig und abschließend erörtert. Seitdem gibt es keine neuen Erkenntnisse", hatte Bayer-Sprecher Oliver Renner argumentiert. Es sei kein Zusammenhang zwischen Duogynon und Missbildungen festgestellt worden, fügte er hinzu.