Julian Assange in England abgetaucht. Schwedische Oberstaatsanwältin macht Druck

Stockholm. Für den untergetauchten australischen WikiLeaks-Gründer Julian Assange, 39, wird es eng. Nach der Veröffentlichung von mehr als 250 000 US-Diplomaten-Depeschen in seinem Internet-Enthüllungsportal wächst nicht nur der Druck Washingtons. Auch die schwedische Justiz jagt ihn wegen Vergewaltigungsverdachts. Gestern lehnte das Oberste Gericht in Stockholm die Aufhebung des internationalen Haftbefehls ab.

Eine Frau hat sich an seine Fersen geheftet - Oberstaatsanwältin Marianne Ny aus Göteborg, 57, Spezialistin für häusliche Gewalt und Sexualverbrechen. Die Anklägerin, die auch der Expertengruppe für Kinderrechte des Europarats angehört, will den Australier unbedingt vor Gericht bringen. Assange versteckt sich laut der britischen Zeitung "Independent" im Südosten Englands. Scotland Yard sei sein Aufenthaltsort bekannt. Dass der WikiLeaks-Chef noch nicht festgenommen wurde, liegt an einem Formfehler der Schweden beim Ausfüllen des Haftbefehls.

Der wurde inzwischen korrigert. "Ich gehe davon aus, dass wir die Festnahme von Julian Assange bald erleben werden, damit die Ermittlungen abgeschlossen werden können", sagte Ny gestern. Schon im August war Assange ins Visier der Staatsanwaltschaften in Stockholm und Enköping geraten. Wie die Zeitung "Expressen" berichtet, wird er von zwei Frauen beschuldigt, sie missbraucht zu haben. Beide sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Offenbar wussten sie zunächst nichts voneinander. Erst nach den öffentlichen Berichten nahmen sie Kontakt miteinander auf. Die zwei Frauen hatten den Australier zufällig kennengelernt, waren zunächst freiwillig mit ihm ins Bett gegangen. Eine von ihnen soll eine Mitarbeiterin des Internet-Aktivisten gewesen sein, die in den schwedischen Medien "Miss A" genannt wird. Nach einer gemeinsam verbrachten Nacht soll Assange sie zum ungeschützten Geschlechtsverkehr gezwungen haben. Sie erstattete Anzeige wegen Vergewaltigung. Es wurde sofort Haftbefehl erlassen.

Assange wurde im August in Stockholm verhört. Laut Vernehmungsprotokoll sprach er von einem geplatzten Kondom und sagte: "Wir hatten mehrere Male Sex." Alles sei freiwillig geschehen. Der Haftbefehl wurde aufgehoben. Ende des ersten Akts.

Der zweite Akt begann kurz darauf im September. Claes Borgström, Anwalt der beiden klagenden Frauen, legte gegen die Einstellung des Verfahrens Beschwerde ein. Und bekam recht. Die leitende Staatsanwältin Marianne Ny übernahm den Fall. Dass sie mit Borgström seit vielen Jahren befreundet ist, gilt als "Zufall". Sie fand jedenfalls - nachdem der Haftbefehl zwei Wochen vorher aufgehoben worden war - in den Akten und Aussagen Gründe genug, um neu zu ermitteln. Um welche Informationen es sich dabei handelt, wollte sie nicht preisgeben. "Ich kann aus Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen über keine Details sprechen", sagte Ny. Die Juristin, die laut "SZ-Online" eigentlich Ingenieurin werden wollte, leitet bei der Staatsanwaltschaft Göteborg das Entwicklungszentrum. Diese Zentren, es gibt drei davon in Schweden, sind auch Berufungsinstanzen, die Entscheidungen anderer Staatsanwälte überprüfen. Außerdem befasst man sich mit Sexualverbrechen, Nötigung und Belästigung. Mit jenen Delikten also, die dem WikiLeaks-Chef zur Last gelegt werden.

Am 18. November erging schließlich der zweite Haftbefehl. Da hatte sich Assange aber schon aus Schweden abgesetzt. Seit dem 1. Dezember ist er nun sogar von Interpol als Sexualverbrecher zur Fahndung ausgeschrieben. Assange vermutet eine politische Intrige, man habe ihn vor schmutzigen Tricks der USA gewarnt.

Assange will sich nur am Telefon zu den Vorwürfen äußern

Dass er nicht freiwillig aus seinem Versteck herauskommt, hat eher weniger mit dem schwedischen Haftbefehl zu tun. Seit den jüngsten WikiLeaks-Veröffentlichungen über amerikanische Pläne, gegen den Iran vorzugehen, gilt er als "Weltfeind". Er habe schon mehrere Morddrohungen erhalten, sagte sein Sprecher.

Assanges schwedischer Anwalt Björn Hurtig erklärte gestern vor dem Höchsten Gericht in Stockholm, dass sein Klient zu einem Verhör per Telefon bereit sei. Eine Fluchtgefahr bestehe nicht, weil er sich nach dem ersten Verhör noch viele Wochen in Schweden aufgehalten habe. Der internationale Haftbefehl müsse aufgehoben werden. Das Gericht war anderer Auffassung.