EU-Richter weisen die Klage eines Mannes ab, der vier Kinder mit seiner Schwester zeugte. “Beischlaf zwischen Verwandten“ sei verboten.

Straßburg/Hamburg. Patrick S. und seine Schwester Susan K. wuchsen in schwierigen Familienverhältnissen auf - und an verschiedenen Orten. Er lebte seit seinem dritten Lebensjahr in Kinderheimen. Mit sieben Jahren adoptierte ihn seine Pflegefamilie, deren Namen er annahm. Als sich Patrick im Jahr 2000 - mittlerweile war er 24 Jahre alt - mithilfe des Jugendamts auf die Suche nach seiner leiblichen Mutter macht, lernte er seine 16 Jahre alte, geistig leicht behinderte Schwester kennen. Von ihrer Existenz wusste er bis dahin nichts. Er zog zu ihnen und zwischen den Geschwistern entwickelte sich nach dem Tod der gemeinsamen Mutter am 12. Dezember 2000 eine Liebesbeziehung. Zwischen 2001 und 2005 wurden vier Kinder geboren. Zwei sind behindert. Drei kamen in eine Pflegefamilie, das vierte blieb bei der Mutter.

Als 2001 das erste Kind zur Welt kam, wurde nach einer Anzeige des Jugendamts in Leipzig gegen Patrick S. ein erstes Strafverfahren eingeleitet. Denn laut Paragraf 173 des deutschen Strafgesetzbuchs ist der "Beischlaf zwischen Verwandten" verboten, auch wenn er im Einvernehmen stattfindet.

+++ Urteil: Geschwisterliebe ist kein Menschenrecht +++

Am 23. April 2002 wurde der Leipziger vom Amtsgericht Borna wegen 16 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt - auf Bewährung. 2003 kam dann das zweite gemeinsame Kind zur Welt. Patrick S. wurde deshalb am 6. April 2004 zu zehn Monaten Haft verurteilt. Wenige Tage vorher wurde das dritte gemeinsame Kind geboren - und 2005 das vierte gemeinsame Kind.

Patrick S. wurde wegen dieser letzten beiden "Vorfälle" im November 2005 vom Amtsgericht Leipzig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Das Urteil wurde von den deutschen Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht bestätigt. Patrick S., der sich mittlerweile sterilisieren ließ, trat am 4. Juni 2008 seine Gefängnisstrafe in der Justizvollzugsanstalt Leipzig an. Rund ein Jahr später wurde er entlassen. Dieser Belastung war die Beziehung nicht gewachsen, sie zerbrach. Patrick S. und Susan K. leben heute getrennt. Sie wurde nicht bestraft. Ihr wurden eine "ängstlich zurückgezogene Persönlichkeitsstruktur" und verminderte Schuldfähigkeit attestiert.

Patrick S. und sein Dresdner Anwalt Endrick Wilhelm wollten diese Urteile nicht auf sich beruhen lassen und wandten sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Ihr Ziel: das Verbot der Geschwisterliebe komplett aus dem deutschen Gesetzbuch zu kippen, denn das gesellschaftliche Tabu reiche aus, das Argument mit eventuell behinderten Kindern sei nicht schlüssig. Ohne Erfolg. Gestern entschied das Gericht, dass die Verurteilung von Patrick S. nicht dessen Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt. Dieses Recht ist in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Der Anwalt des heute 35-Jährigen hatte auch argumentiert, die Haftstrafe habe die Familie von Patrick S. "zerstört".

Die Straßburger Richter wiesen zwar darauf hin, dass nicht in allen 47 Mitgliedstaaten des Europarats sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern strafbar seien. Die deutschen Behörden hätten bei der Entscheidung, wie mit solchen Inzestbeziehungen umzugehen sei, aber einen "weiten Beurteilungsspielraum". Laut dem EGMR besteht "zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats kein Konsens hinsichtlich der Frage, ob einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern eine Straftat darstellen". Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, es kann Berufung eingelegt werden.

Das Inzestverbot ist aus Sicht von Rechtsanwalt Jan Siebenhüner, der an der Universität Leipzig ein Gutachten über den umstrittenen Paragrafen 173 verfasst hatte, nicht mehr zeitgemäß. "Es ist deutlich überzogen und aus verfassungsrechtlicher Sicht unhaltbar", kritisierte der Experte. Obwohl Geschwisterpaare ein besonders hohes Risiko haben, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, widerspreche die Regelung dem Gesetz der Gleichbehandlung. "Dann müsste man auch Behinderten verbieten, Kinder zu bekommen", sagte Siebenhüner. Auch das Argument zum Schutz der Familie "greift nicht, weil das Inzestverbot nicht alle Familienmitglieder betrifft". So seien etwa homosexuelle Kontakte unter erwachsenen Geschwistern nicht strafbar. Aus Gründen der Gleichbehandlung müsse seiner Meinung nach der Inzest-Paragraf entweder geändert oder ganz gekippt werden.