Verwöhnt: Sie kennen keinen Wecker, lassen sich als Vierjährige noch füttern und laufen über gepolsterte Treppenstufen, damit sie sich nicht stoßen.

Peking/Hamburg. In Hollywood gilt die vierjährige Suri Cruise als Prototyp des verwöhnten Einzelkindes. Ihre Eltern, das Schauspieler-Ehepaar Tom Cruise, 49, und Katie Holmes, 33, statteten sie mit eigener Kreditkarte, iPad und Designerroben aus. Doch Luxuskind Suri bekommt nun Konkurrenz aus dem Reich der Mitte.

In Chinas Großstädten verhätschelt besonders die gut verdienende Mittelschicht den Nachwuchs. "Schneeflocken-Kinder" nennt man diese maßlos überbehüteten Kinder. Vermutlich kommt die Bezeichnung daher, dass diese Eltern in ständiger Sorge um ihr Kleines sind wie um eine filigrane Schneeflocke. Seit 1979 darf jede Familie nur ein Kind haben - so hat es die Regierung befohlen. Damit will sie das rasante Bevölkerungswachstum in den Griff bekommen. Die Geburtenrate liegt bei 1,5 Kindern pro Frau.

Auch Yao Yao aus Shanghai ist ein "Schneeflöckchen". Die Vierjährige aus der Millionenmetropole bekommt jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Zum Essen ist sie nur dann zu bewegen, wenn gleichzeitig der Fernseher läuft und die Großeltern sie füttern. Und weil die Kleine schon jetzt sehr modebewusst ist, spendiert ihr die Mutter alle drei Monate eine neue Garderobe. Doch damit nicht genug: Sie zieht sich nicht einmal selbstständig an. Yao Yao bekommt zum Beispiel nur Schuhe mit Klettverschlüssen, da sie nicht lernen möchte, Schnürsenkel zuzubinden. "Ich habe es ihr schon oft gezeigt, aber sie möchte damit nicht weiter genervt werden", verriet ihre Mutter der britischen Zeitung "Daily Telegraph". Sie hat permanent ein schlechtes Gewissen, da sie und ihr Mann voll berufstätig sind und dadurch wenig Zeit für ihre Tochter haben.

Einmal kam ein Mädchen aus der Verwandtschaft zu Besuch und spielte mit Yao Yaos Puppe. Anschließend warf die Kleine das Spielzeug aus dem 17. Stock des Wohnhauses - es war ihr zu schmutzig, weil es von einem anderen Kind berührt worden war. Und "wenn ich Yao Yao auffordere, aus dem Bett zu kommen, verkriecht sie sich unter der Bettdecke und weigert sich aufzustehen", erzählt die Mutter. Unangenehm sind ihr die Starallüren der Tochter keineswegs, denn das Mädchen ist der ganze Stolz der Familie. In vielen chinesischen Familien geht es mittlerweile ähnlich zu, denn Einzelkinder stehen meist noch stärker im Mittelpunkt, als wenn sie Geschwister hätten. Sie werden nach allen Regeln der Kunst verwöhnt, bis es teilweise absurde Formen annimmt. Wenn Yao Yao in den Kindergarten geht, erwarten sie dort Treppenstufen, Ecken und Geländer, die allesamt gepolstert sind, damit sie sich nicht verletzen kann.

Von diesen Vorsichtsmaßnahmen berichtet auch Erzieherin Gu Jianmei, 47, die seit mehr als 30 Jahren in einem Kindergarten in Huainan (Provinz Anhui) arbeitet. "Die Kinder turnen nicht bei uns. Stattdessen legen wir sie auf gepolsterte Matten", sagte sie dem "Daily Telegraph". Wissenschaftler Paul French, Gründer von Access Asia, einer Forschungsgesellschaft mit Sitz in China, bestätigt diese Entwicklung: "Sie (die Kinder) trinken nur Evian (Mineralwasser). Sie haben Angst vor Lebensmitteln, es sei denn, sie sind importiert. Ihre Eltern bewegen sich leise um sie herum, damit sie ,natürlich' aufwachen. Sie benutzen auch keinen Wecker, damit die Kinder im Einklang mit ihrem Biorhythmus sind."

Doch die Folgen übermäßiger Behütung und Verwöhnung können gravierend sein. "Wenn man Kindern suggeriert, man könne alles für sie aus dem Weg räumen, dann verlieren sie unter Umständen ihren Realitätssinn", warnt Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Michael Schulte-Markwort vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Palette möglicher Konsequenzen reicht dabei von mangelnder Konfliktfähigkeit bis hin zu narzisstischen Persönlichkeitsstörungen. Wichtig sei es daher für die Eltern, dem Kind ein ausgewogenes Maß an Schutz und Herausforderung zu bieten.