Nur zwei Bäume verhindern, dass ein Waggon in einen Fluss stürzt. Helfer graben mit bloßen Händen nach Toten.

Bozen/Hamburg. Eine breite Schlammlawine rast talwärts. Die Bäume am Hang können weder die nasse Erde noch die Gesteinsbrocken aufhalten. Die Menschen im Regionalzug R108 auf dem Weg nach Meran, der gegen 9 Uhr auf der eingleisigen Strecke in das enge Tal einbiegt, ahnen nichts von der Gefahr, die auf sie zurollt. Plötzlich reißt die Wucht der Mure den Zug von den Gleisen in die Tiefe.

Mindestens neun Menschen sind bei dem schweren Zugunglück gestern in Südtirol ums Leben gekommen. 28 weitere Insassen wurden verletzt, sieben von ihnen schwer. Vier Fahrgäste wurden am Abend noch vermisst. Die Regionalbahn im Meraner Land gehört zu den modernsten Anlagen in Italien.

"Ein Wagen wurde bei diesem Sturz direkt getroffen", sagte der Rettungshelfer Florian Schrofenneger dem italienischen Fernsehsender Sky TG24. Unglaublich: Nur zwei Bäume in der Nähe des Gleises sollen verhindert haben, dass der erste von zwei Waggons in das Kiesbett des Flusses Etsch gedrückt wurde. Die Insassen wären dann sicherlich ertrunken. Die Feuerwehren sicherten den Waggon, der über und über mit Schlamm bedeckt war, mit einem Flaschenzug. Zusammen mit Kräften des Zivilschutzes gruben sie nach Opfern. Zum Teil arbeiteten die Männer mit bloßen Händen.

"Es stecken immer noch Opfer in dem Schlamm", sagte der bestürzte Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder gestern an der Unfallstelle zwischen Malles und Meran im Vinschgau. Die mehr als 40 Menschen in dem Zug seien alle durch die gewaltige Wucht der Schlammmassen verschüttet worden. "Das ist ohne jeden Zweifel die schlimmste Zugtragödie, die wir jemals in der Provinz Bozen gehabt haben", erklärte Durnwalder. Die Retter arbeiteten bis in die Abendstunden.

Die Erd- und Gesteinsmassen bewegten sich in einer Breite von zehn bis 15 Metern talwärts und drangen auch in die Waggons ein, erläuterte der Bozener Chefgeologe Ludwig Nössing. Es sei sehr schwierig gewesen, die Toten zu bergen. Einer der beiden Dieseltriebwagen des Zuges wurde völlig unter Schutt begraben. Unklar war gestern, ob der Lokführer unter den Toten ist. Die Schwerverletzten wurden auf mehrere Südtiroler Krankenhäuser verteilt. "Die Rettungshubschrauber sind pausenlos im Einsatz", sagte Markus Perwanger vom Studio Bozen des Senders Rai. Er berichtete auch von Rauch, der über der Unglücksstelle stehen sollte. Der Zivilschutz errichtete für die leichter Verletzten ein Feldkrankenhaus. Für Angehörige wurde eine Hotline geschaltet.

Unter den Verletzten sollen auch zwei deutsche Touristen sein. Das bestätigte das Auswärtige Amt in Berlin zunächst jedoch nicht. Inzwischen wurde das Generalkonsulat eingeschaltet, doch gab es bis zum späten Abend keine neuen Erkenntnisse.

Nach ersten Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft könnte die Beregnungsleitung eines Obstanbaugebietes oberhalb der Schlucht über Nacht geplatzt sein. Das ausströmende Wasser hat das Gelände offenbar langsam aufgeweicht. Schließlich geriet der Schlamm ins Rutschen, riss Äste und Gesteinsbrocken mit sich in die Tiefe. Der Zug war zwar mit einem Lawinenwarnsystem ausgerüstet, doch schlägt das Gerät nur an, wenn die Lawine vor dem Zug niedergeht. Ein Experte: "Dass sich die Lawine gerade in dem Moment löst, als die Bahn vorbeifährt, ist schon ausgesprochen tragisch."

Die Eisenbahnstrecke war erst im Jahre 2005 eröffnet worden. Sie verbindet Bozen mit dem berühmten Kurort Meran. Die malerische Strecke verläuft entlang des Flusses Etsch. Die Zugstrecke gilt bei Touristen als Geheimtipp, vor allem, weil man sich an den Bahnhöfen ein Fahrrad leihen oder sein eigenes mitnehmen kann.