2003 gelang in Antwerpen der größte Diamantenraub aller Zeiten. Ein Buch, das jetzt in den USA erschien, zeichnet den unglaublichen Coup nach.

Der 8. März 2009 war ein schöner Tag für Leonardo Notarbartolo aus Turin. Er war wieder ein freier Mann, nach fast vier Jahren Haft in einem belgischen Gefängnis. Er war um einen mindestens zweistelligen Millionenbetrag reicher, lebenslänglich steuerfrei: haufenweise Diamanten, Gold, Bargeld, Schmuck, Luxus-Uhren. Leonardo Notarbartolo, ein sympathisch aussehender Endfünfziger, konnte sich fühlen wie der König der Welt. Theoretisch jedenfalls.

Die unglaubliche Geschichte seines Reichtums beginnt etliche Jahre früher.

Am Valentinstags-Wochenende im Februar 2003 war das Diamond Center im Antwerpener Diamantendistrikt überfallen worden, wo täglich Edelsteine im Wert von 200 Millionen Dollar ihre Besitzer wechseln sollen, niemand weiß das genau, denn das Business ruht auf zwei Säulen: Vertrauen und Diskretion. 109 der 189 Schließfächer im unterirdischen Tresorraum wurden aufgebrochen. Nach ersten Schätzungen betrug der Wert der Beute rund 100 Millionen Euro, später war von bis zu 400 Millionen Euro die Rede. Niemand weiß das genau.

Der erste Gedanke der Polizisten, die am Tatort eintrafen: Allein, was die Täter links und rechts liegengelassen hatten, weil sie es nicht mehr tragen wollten, würde für etliche Frühpensionierungen reichen.

Als damals die Nachricht vom größten, dreistesten und raffiniertesten Diamantendiebstahl aller Zeiten um die Welt ging, fragte sich jeder mit einer Mischung aus Neid, Schadenfreude, Respekt und Ungläubigkeit: Wie, verdammt noch mal, haben die das gemacht? Wie sind sie da bloß reingekommen? Und wie wieder raus?

Die ganze Gegend, in der sich 80 Prozent des Diamanten-Welthandels abspielen, ist gespickt mit Überwachungskameras. Ausfahrbare Straßenbarrieren würden rasante Fluchtfahrten sofort ausbremsen. Direkt um die Ecke des Diamond Center war eine kleine Polizeiwache. Der Tresorraum unterhalb von 9-11 Schupstraat war mit einer der solidesten Safetüren verschlossen, die man bei der Firma LIPS kaufen kann. Man braucht einen Spezialschlüssel und die Zahlenkombination, um sie zu öffnen. Um die Kombination einzugeben, muss man in ein Fensterchen sehen, durch eine Linse, die das Bild leicht verzerrt. Wollte man die 20 Zentimeter dicke Tür sprengen, müsste man das gesamte Gebäude in die Luft jagen. Was garantiert keiner Alarmanlage der Nachbarschaft entgangen wäre.

Es gab Wachen und etliche Video-Kameras im Gebäude und außerhalb des Tresorraums eine magnetische Vorrichtung, die Alarm auslöst, sollte jemand die Tür aufbrechen wollen. Im Tresorraum selbst befanden sich Sensoren, die auf Licht, Körperwärme und Bewegungen reagierten. Jedes Schließfach, passgenau eingelassen, war mit einem Code-Schloss gesichert.Alles sah bombensicher aus. Es hätte nie etwas passieren dürfen.

Von Richard "The Iceman" Kuklinski, der rechten Hand des berüchtigten Mafioso John Gotti, ist ein schöner Ausspruch überliefert. Nachdem er den Antwerpener Diamantenbezirk fachkundig inspiziert hatte, winkte er nur ab: Da gebe es kein Reinkommen, das alles sei "so dicht wie der Hintern einer Nonne".

So kann man sich irren.

Am Morgen des 16. Februar 2003 kamen die Wachmänner auf ihrer ersten Runde nach dem Wochenende am Tresorraum vorbei. Das Licht brannte. Es war passiert.

Die Frage nach dem Wie stellten sich auch Scott Selby und Greg Campbell. Ihr Buch "Flawless", das gerade in den USA und in England erschienen ist, dokumentiert penibel und hochspannend, wie eine Gruppe cleverer Turiner nach über zwei Jahren geduldiger Vorarbeit einen Teil der Sicherheitsvorkehrungen austrickste - und bei anderen ein schier unglaubliches Glück hatte.

Nur einige Beispiele: Ins Gebäude kamen sie, weil es am Hintereingang am Wochenende keine Videoüberwachung gab und sich die Funkfrequenz des Garageneingangs viel zu leicht ermitteln ließ. Der Spezialschlüssel für die LIPS-Tür hing im Lagerraum nebenan. Die Linse des Bewegungssensors bei den Schließfächern hatte Notarbartolo in einem von vielen unbeobachteten Momenten mit einer Dosis Haarspray ausgetrickst.

Unklar ist allerdings, wie Notarbartolo und seine Kollegen an die Kombination der LIPS-Tür gekommen sind. Haben die Wachmänner irgendwann keine Lust mehr gehabt, sie nach jedem täglichen Öffnen und Schließen wieder zu verstellen? Hatte einer womöglich einen Zettel in einer leicht zugänglichen Brieftasche, auf dem die Kombination stand, falls sie einmal vergessen würde? Zumindest dieser Teil des Rätsels bleibt wohl ungelöst.

Um die Türen der Schließfächer zu öffnen, hatten sich die Räuber eine Art Korkenzieher gebaut, der nur deswegen funktionierte, weil die meisten Tür-Innenseiten aus nachgiebigem Plastik statt aus Stahl waren. Als der erste Korkenzieher wegen Überlastung seinen Geist aufgab, griffen die Turiner zu einem Ersatzwerkzeug. Sie hatten ein Zeitfenster von 60 Stunden und an alles gedacht, so schien es.

All das und noch mehr, um am Ende wegen eines Müllbeutels, einer zerrissenen Rechnung und eines ordnungsfanatischen Rentners zu scheitern.

Auf ihrer Flucht hatten die Gangster ihren Müll - dienstlichen wie privaten - in ein Waldstück kurz vor dem Flughafen von Brüssel geworfen. Genau dorthin, wo August van Camp, ein ehemaliger Kaufmann mit einer Überdosis Ordnungssinn, täglich mit seinem Gewehr patrouilliert, um Müllentsorger möglichst auf frischer Tat zu erwischen. In dem verhängnisvollerweise nicht getrennten Abfall, in dem der Rentner nach Spuren des vermeintlichen Umweltsünders suchte, bis ihm seine Frau von dem Riesenraub erzählte, fand die Polizei später eine Quittung, die schnell auf die Spur der Turiner führte und einige von ihnen schließlich hinter Gitter brachte. Im Müll gefunden wurden auch indische Rupien. Die Gangster bevorzugten gängigere Währungen.

Die ganze schöne Planung, das Warten, das Bangen, ob nicht zwischendurch jemand die Schutzmaßnahmen aufrüstet - alles vergebens. Der große Trost: Umsonst war es nicht.

Zwei langweilige Jahre lang hatte sich Notarbartolo im Diamond Center einquartiert; er hatte sich dort einfach für eine Tarnfirma namens "Damoros Preziosi" ein Büro gemietet, getarnt als einer von vielen Diamantenhändlern. Damit war er drin, er war einer von rund 250 Untermietern des größten Bürogebäudes im Diamantenbezirk. Bevor er einzog, hatten ihm die Vermieter ganz selbstverständlich einen Grundriss des Gebäudes zur Verfügung gestellt, den er erbeten hatte, um genau das richtige Büro für sich zu finden.

Nun konnte Notarbartolo in aller Ruhe die Sicherheitsmaßnahmen studieren. Für die Kollegen in Turin drehte er mit einer versteckten Kamera immer wieder Filme, die ihnen hilfreiche Details über Schwachstellen verrieten.

Seit seiner Freilassung sitzt Notarbartolo in einer massiv vergoldeten Zwickmühle. Er mag jetzt steinreich sein, doch er kann den Verkaufserlös der Steine nicht genießen, ohne aufzufallen. Obwohl es ein Leichtes ist, einen Diamanten nach minimalen Schleifarbeiten mit einem neuen Zertifikat wieder auf den Markt zu werfen.

Noch während seiner Haftzeit hatte Notarbartolo Kontakt zu einem Reporter des US-Magazins "Wired" bekommen, dessen Story wenige Tage nach der Freilassung des Italieners erschien. Darin ließ dieser seine Fantasie großflächig aufblühen. Der Journalist glaubte ihm, dass der Coup als Auftragsarbeit von einer Antwerpener Gruppe jüdischer Diamantenhändler bestellt worden sei, um die Versicherungssumme für die Preziosen zu kassieren - obwohl nur ein geringer Teil versichert war. Diese Kunden hätten am Ende sogar die Panzerknacker selbst reingelegt, behauptete Notarbartolo. Er flunkerte weiter, das Ganze sei in einem minuziös nachgebauten Tresorraum im Dunkeln wieder und wieder geübt worden, obwohl die Räuber den Lichtsensor mühelos mit handelsüblichem Klebeband außer Betriebgesetzt hatten.

Es gibt etliche solcher Widersprüche, die das Autorenduo Selby und Campbell nach und nach knackten wie ein Sicherheitsschloss.

Doch am Ende sprang für Notarbartolo neben einem ordentlichen Informationshonorar vor allem auch ein Hollywood-Deal mit dem Filmemacher J.J. Abrams ("Lost", "Star Trek") heraus. Eine fast ideale Ausrede, falls jemand genauer nachfragen sollte, von welchem Geld er denn beispielsweise den neuen BMW 120 D bezahlt habe, in dem er im Juli 2009 in Mailand mit einem Batzen Diamanten erwischt wurde. Notarbartolo geht inzwischen wieder seinem Beruf nach: Juwelier. Das erleichterte das Herauslavieren ungemein, obwohl die Rechnung, die er zu seiner Entlastung vorlegte, auf einen Tag datiert war, an dem er noch im Gefängnis saß.

Am 12. März klagte Notarbartolo in einem "La Stampa"-Interview darüber, wie schlecht ihn die Mitverurteilten behandelt hätten, wie schlecht die Welt an sich doch sei. Der Stundenlohn, der irgendwo auf Notarbartolo wartet, um in handlichen Portionen genossen zu werden, dürfte all das wieder wettmachen. Er kann kein zweites Mal für dasselbe Verbrechen verurteilt werden.

Buch : Scott A. Selby / Greg Campbell "Flawless" 319 S., 24,95 Dollar. Als E-Book bei www.barnesandnoble.com (9,99 Dollar). www.flawlessbook.com