Okcular. Als Zeynep Yüksel am frühen Morgen wach wird, wackelt das ganze Haus. Die Möbel werden durcheinandergeworfen, der Fernseher zerbirst. "Ich hatte große Angst", berichtet die junge Frau einige Stunden später. Ihr Heimatdorf Okcular im Südosten der Türkei ist durch den Erdstoß der Stärke 6,0 größtenteils zerstört worden.

Zeynep Yüksel gehört zu den Glücklichen, die mit dem Leben davongekommen sind: In Okcular und einigen Nachbardörfern starben 51 Menschen, jedes vierte Todesopfer ist ein Kind. Viele dieser Menschen könnten noch leben, wenn die Behörden und auch die Bewohner der Gegend die Erdbebengefahr ernster genommen hätten, kritisieren Experten. "Ich bin rausgerannt, habe rechts und links geschaut, ob noch jemand im Haus ist, dann ist alles eingestürzt", erzählt eine Überlebende in Okcular. Wie viele Dorfbewohner hat sie sich nach ihrer eigenen Rettung an der Suche nach anderen Opfern beteiligt. Mit bloßen Händen habe sie in den Trümmern des Hauses von Verwandten gegraben, sagt sie - doch sie fand nur die Leichen von zwei Kindern und deren Mutter. Am frühen Nachmittag werden im Erdbebengebiet schon die ersten Todesoper zu Grabe getragen. Der Rote Halbmond hat unterdessen im Hof der Dorfschule von Okcular sein Hauptquartier für Hilfsleistungen eingerichtet, für Überlebende wie Zeynep Yüksel werden Zelte aufgebaut, Decken und warme Mahlzeiten verteilt.

Der türkische Staat, der bei früheren Erdbeben oft genug bei der Soforthilfe versagte, wird diesmal sofort aktiv. Selbst die Bewohner von unzerstörten Häusern suchen Schutz in den Zelten, denn zwei starke Nachbeben und Dutzende kleiner Beben sorgen in Okcular immer wieder für neue Panik. Gleichzeitig kämpfen sich im Dorf Räummaschinen durch die Trümmer der Häuser. Dabei fällt auf, dass modernere Betongebäude fast unbeschädigt stehen geblieben sind, während so manches traditionelle Bauernhaus nur noch ein Schutthaufen ist. Die in dieser Gegend häufig für den Hausbau verwendeten Materialien Lehm und Naturstein seien für die vergleichsweise hohe Zahl der Todesopfer verantwortlich, sagt Regierungschef Recep Tayyip Erdogan.

Der Istanbuler Wissenschaftler Naci Görür kritisiert, dass die Erdbebengefahr erst kürzlich bei Informationsveranstaltungen in der Region thematisiert worden sei. "Aber unsere Bevölkerung und unsere Behörden nehmen die Warnungen nicht ernst." Das betreffe vor allem die in der ganzen Türkei anzutreffende Nachlässigkeit bei der Errichtung erdbebenfester Häuser.