Für rund 74 Millionen Euro ging eine Skulptur des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti an einen anonymen Telefonkäufer.

London. Es dauert nur acht Minuten, bis die Krise am Kunstmarkt wie weggeblasen schien. Acht Minuten, dann hatte eine Skulptur des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti den Rekord für ein Kunstwerk bei einer Auktion gebrochen. Schon im Vorfeld war klar, dass die Plastik aus der Sammlung der Commerzbank beim Auktionshaus Sotheby's in London die Erwartungen übertreffen würde. Aber dass sie einen Preis von 65 Millionen Pfund (rund 74 Millionen Euro) erzielen und damit auch Picassos Auktionsrekord übertrumpfen würde, platzte in die Kunstwelt dann doch ein wie eine Bombe.

Als „absolut euphorisch“ beschrieb eine Sotheby's-Sprecherin die Stimmung. Gleich mehrere Bieter trieben am Mittwochabend den Preis für die lebensgroße Figur „L'Homme qui marche I“ in die Höhe. Der Schätzpreis von 18 Millionen Pfund war blitzschnell übertroffen. Als der „Schreitende Mann“ die 35-Millionen-Marke überstieg, ging eine Raunen durch den Saal, bei der 50-Millionen-Marke ein Lachen. Nach acht Minuten tosender Applaus: Der Auktionsrekord, den Pablo Picasso vor sechs Jahren mit dem Gemälde „Junge mit Pfeife“ gesetzt hatte, war haarscharf gebrochen. Den Zuschlag bekam ein anonymer Telefonbieter.

Es klingt fast schon ironisch: Der Katalog beschreibt die fragile Bronzeplastik, die Giacometti 1961 geschaffen hatte und die einst im Frankfurter Dresdner-Bank-Hochhaus stand, als „demütige Darstellung eines einfachen Mannes“. Bei dem Käufer kann es sich wohl nicht um einen einfachen Mann gehandelt haben. Entweder sei es jemand gewesen, der das Werk als Investment ansieht oder der ein wirklicher Liebhaber ist, sagte der Kunstmarkt-Experte Henry Lydiate. „Angesichts des Status und der Seltenheit des Werkes“ sei er von dem Rekord nicht überrascht. Der „Schreitende Mann“, ein zu Lebzeiten entstandener Abguss, zählt zu den wichtigsten Werken Giacomettis (1901-1966), der mit seinen fragilen und bedrückenden Plastiken schon lange zu den populärsten Künstlern der 20. Jahrhunderts gehört. In letzter Zeit hatte sich bei Auktionen ein wahrerHype um den Schweizer gebildet. Philip Hook von Sotheby's erklärte, ein Bieter habe 40 Jahre darauf gewartet, dass solch ein Werk auf den Markt komme – und der sei „nicht der siegreiche Bewerber“ gewesen.

Der Markt für hochwertige und seltene Werke lag auch während der Finanzkrise nicht völlig am Boden und hatte sich zuletzt stark erholt. Das Problem war viel mehr, dass in der Krise weniger gute Werke zu haben waren: „Kein Sammler will sein bestes Stück in einer Zeit verkaufen, in der er weiß, dass die Kunden auf ihrem Geld sitzen“, erklärte ein Experte beim Konkurrenz-Auktionshaus Phillips de Pury, der anonym bleiben wollte. Ironisch ist auch, dass das Werk in gewissem Sinne im Zuge der Bankenkrise – die auch die Spekulationsblase am Kunstmarkt zerbersten hat lassen – auf den Markt gekommen ist: Im vergangenen Jahr hatte die Commerzbank die kriselnde Dresdner Bank übernommen, in deren Besitz der „Schreitende Mann“ seit den 80er Jahren war. Weil die Commerzbank ihre Sammlung neu ausrichtete, kam auch Giacometti auf den Markt. Der Erlös geht nun an die Stiftungen der Bank.

Die Schlagzeilen über den „Weltrekord“ sind nun natürlich gut für das Auktionshaus Sotheby's. Die Hoffnung ist, dass schwerreiche Investoren wieder fleißig kaufen. Insgesamt lag die Summe der Auktion am Mittwoch bei 146,8 Millionen Pfund – auch das ein Rekord für eine Versteigerung bei Sotheby's in London. Giacometti übertraf dabei die Bestmarke nur knapp: Er kam auf umgerechnet 104327006 Dollar - Picasso erzielte 2004 in New York 104168000 Dollar. Und es handelt sich bei weitem nicht um das teuerste Werk der Welt: Im privaten Rahmen – also nicht bei einer Auktion – wurden Gemälde zum Beispiel von Jackson Pollock und Gustav Klimt schon für mehr Geld verkauft. Dass das Publikum die wertvolle Skulptur nun zu sehen bekommt, ist sehr unwahrscheinlich. Experte Lydiate sagte, er gehe nicht davon aus, dass eine öffentlich Sammlung das Werk erworben habe.

Derweil erklärte der Direktor des Duisburger Wilhelm Lehmbruck Museums, Raimund Stecker, die Kehrseite des Rekordsumme bestehe darin, dass jetzt öffentliche Sammlungen noch weniger Werke des Bildhauers erwerben könnten. Das Duisburger Museum hält die größte Giacometti-Sammlung in Deutschland und lässt nach der Aufregung um den Rekord seine aktuelle Ausstellung prompt stärker bewachen. Derweil rankten sich in London am Donnerstag die Spekulationen um den neuen Besitzer. In Europa ist er wohl nicht zu vermuten. Die Vize-Vorsitzende von Sotheby's Abteilung für Impressionisten und Künstler der Moderne, Helena Newman, hatte vor der Auktion erklärt, dass sich Sammler aus China vor einigen Jahre nur für zeitgenössische chinesische Kunst interessiert hätten. Mittlerweile würden sie aber mit Russen oder Amerikanern um die besten impressionistischen und modernen Kunstwerke aus Europa konkurrieren. Im Gespräch war außerdem gleich der russische Milliardär Roman Abramowitsch, der als Giacometti-Fan gilt und schon öfter am Kunstmarkt zugeschlagen hatte. Die britische Zeitung „Daily Telegraph“ meldete jedoch, dass er schon dementiert habe, der neue Besitzer zu sein.