Neurologen rechnen mit vielen ähnlichen Fehldiagnosen. Im schlimmsten Fall wären es allein in Deutschland 12 000.

Brüssel. Lebendig begraben im eigenen Körper, um Hilfe schreien, ohne gehört zu werden - ohne seine Mutter wäre Rom Houben (46) noch heute dazu verdammt. Der erschütternde Fall des Belgiers, der wie berichtet bei vollem Bewusstsein 23 Jahre als Wachkoma-Patient behandelt wurde, wäre ohne den hartnäckigen Kampf seiner Familie nie aufgedeckt worden. "Wir waren immer überzeugt, dass er uns versteht", sagte Fina Houben (73). "Wir suchten nur nach einem Weg, damit er es uns zeigen konnte."

Vor drei Jahren endlich fand sie den belgischen Neurologen Steven Laureys, Leiter einer Forschungsgruppe zur Behandlung von Koma-Patienten an der Universität Lüttich. Mithilfe einer Computertomografie stellte Laureys fest, dass die meisten Hirnareale des Patienten noch aktiv waren. Bei dem Autounfall, der Rom Houben 1983 körperlich gelähmt und ihm die Sprache genommen hatte, war das Großhirn weitgehend unversehrt geblieben.

Ein Sprachcomputer eröffnete Rom Houben die Möglichkeit, sich seiner Außenwelt mitzuteilen. Er braucht allerdings die Hilfe einer Assistentin, um ihn zu bedienen. "Zuerst war es nur eine Maus mit zwei Tasten für Ja oder Nein", erinnert sich seine Mutter. Den Moment, als ihr Sohn wieder mit ihr kommunizieren konnte, vergesse sie nie: "Ich dachte: ,O mein Gott. Na bitte. Ich habe es immer gewusst.'"

Houbens Schicksal ist kein Einzelfall: Laut einer Studie seines Neurologen Laureys wird "bei bis zu 43 Prozent der Patienten mit Bewusstseinsstörungen fälschlich ein vegetativer Zustand diagnostiziert". Von einem vegetativen Zustand spricht man, wenn ein Patient trotz normaler Herz- und Atemfunktion über lange Zeit in tiefer Bewusstlosigkeit verharrt. Auf 25 bis 30 Prozent schätzt Boris Kotchoubey von der Universität Tübingen die Höhe der Fehlerquote. Diese Zahlen werfen ein neues Licht auf die Frage, ob lebensverlängernde Maßnahmen für Wachkoma-Patienten sinnvoll sind. "Das bringt einen doch ins Grübeln", sagt Caroline Schnakers von der Koma-Forschungsgruppe in Lüttich.

Houbens Fall soll sich in einer Klinik der belgischen Stadt Zolder abgespielt haben. "Spiegel Online" berichtet, Houben hätte geschrien, aber es wäre nichts zu hören gewesen. Machtlos sei er Zeuge geworden, wie Ärzte und Pfleger ihn anzusprechen versuchten, bis sie alle Hoffnungen aufgaben. "Es ist unglaublich, dass so etwas passiert ist", erklärte Professor Stefan Schwab von der Universität Erlangen gegenüber der "Ärzte Zeitung". Die Diagnose "Wachkoma" müsse bei Houben ohne Abklärung mit CT gestellt worden sein - ein Verfahren, das bei Wachkomapatienten üblich ist, da sich so das Ausmaß von Gehirnstörungen sicher feststellen lasse. Zudem gebe auch das EEG verlässliche Anhaltspunkte. Klinisch sei die Differenzialdiagnose zwischen Wachkoma und Locked-in-Syndrom durch die gerichteten Augenbewegungen möglich.

Rom Houben jedenfalls war all die Jahre hellwach: "Mein Geist funktionierte weiter. Es war kein Koma, sondern eine komplette Isolation von den anderen", erklärte er über seinen Sprachcomputer in einem Fernsehinterview. So bekam der als 20-Jähriger verunglückte Patient in seinem vermeintlichen Koma auch mit, dass sein Vater gestorben war - er konnte aber seine Trauer nicht zeigen. Es war eines der ersten Themen, über die er nach seiner "Wiedergeburt", wie Houben selbst sie nennt, an seine Mutter schrieb. Kürzlich hätten sie gemeinsam das Grab besucht, berichtet Fina Houben. Rom habe seine Augen geschlossen und einfach nur still dagesessen - "Weinen kann er nicht", sagt seine Mutter. Jetzt will der Sohn ein Buch über sein Schicksal schreiben. Er kann immer noch in den vier Sprachen kommunizieren, die er vor seinem Unfall sprach.

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge diagnostizieren Ärzte pro Jahr in Deutschland bei 3000 bis 6000 Menschen Wachkoma. Die durchschnittliche Lebenserwartung dieser Patienten liege laut "Spiegel Online" bei fünf Jahren. Damit käme man derzeit auf 15 000 bis 30 000 Wachkoma-Patienten. Stimmen die Einschätzungen zu den Fehldiagnosen, würden allein in Deutschland 4000, im schlimmsten Fall 12 000 vermeintliche komatöse Patienten Houbens furchtbares Schicksal teilen.