Bei jedem sechsten Deutschen hat er zur Aufklärung beigetragen und stand zwischendurch sogar auf dem Index: “Dr. Sommer“ aus der “Bravo“.

Düsseldorf. „Wird man vom Küssen schwanger?“ – „Ja, die Frage kommt auch immer wieder“, sagt Marthe Kniep. Die Diplom-Pädagogin leitet das „Dr. Sommer“-Team der Jugendzeitschrift „Bravo“. Vor genau 40 Jahren erschien die Aufklärungs-Rubrik zum ersten Mal. Damals noch der Schrecken vieler Eltern und Jugendschützer, ist „Dr. Sommer“ inzwischen eine Instanz und als Aufklärer der Nation 80 Prozent aller Deutschen ein Begriff. Nach wie vor wenden sich Woche für Woche Hunderte Jugendliche mit Fragen zu Sex und Beziehung an das vierköpfige Team.

Das Interesse erwacht mit oder kurz vor der Pubertät, die heute bei den Jugendlichen allerdings etwa ein Jahr früher beginnt als vor 40 Jahren. Hieß es 1970: „Ich habe ihr das erste Erlebnis versprochen“, heißt es heute etwas direkter: „Zum Geburtstag wünscht er sich Sex.“ Jedes Jahr kommt ein neuer Leser-Jahrgang, beginnt die Aufklärungsarbeit von vorn. Ob Aknepickel oder ein vermeintlich zu kleines Glied – jede Mail, jeder Brief wird individuell beantwortet, sofern ein Absender vorhanden ist, versichert Kniep.

Im Oktober 1969, Heft 43, als der Arzt Martin Goldstein begann, unter dem Pseudonym Dr. Jochen Sommer unsicheren Teenies durch die Pubertät zu helfen, war die Aufregung noch groß. Zweimal stand die „Bravo“ 1972 auf dem Index. Als Goldstein die Selbstbefriedigung enttabuisierte, befanden die staatlichen Jugendschützer: „Die Geschlechtsreife allein berechtigt noch nicht zur Inbetriebnahme der Geschlechtsorgane.“

Das Image des Schmuddeligen und sexuell Anrüchigen haftet noch in vielen Köpfen, doch allmählich kamen auch viele Experten zu dem Schluss, dass es sich bei dem Ratgeber aus München eigentlich um seriöse und professionelle Jugendberatung handelt.

Wenn das Team die Fragen der Teenager heute mit früher vergleicht, hat sich trotz der „sexuellen Revolution“ nicht so viel geändert: „Man darf nicht denken, die Jugendlichen wissen alles, nur weil sie sich heute im Internet alles anschauen können. Im Detail fehlt ganz viel Wissen“, sagt Kniep. Und nach wie vor herrscht in der Pubertät sehr viel Scham.

Aus früher Hunderten Briefen sind heute 500 E-Mails pro Woche geworden, plus noch etwa 50 Briefe und unzählige Anrufe in den drei wöchentlichen Telefon-Sprechstunden. Der Erfolg der Rubrik besteht damals wie heute im Einfühlungsvermögen und darin, den Fragestellern „den Rücken zu stärken“ gegen die Ansprüche ihrer Umwelt. „Was möchtest du denn?“ lautet die Gegenfrage. Und: „Hör auf Dein Bauchgefühl!“

Der Mann, der der erste „Doktor Sommer“ war, ist heute über 80 und lebt bei Düsseldorf. Seine traurige Geschichte: Der Ur-Aufklärer Martin Goldstein hatte selbst keine Jugend, die den Namen verdient. Wegen seines jüdischen Vaters wurde er von den Nazis verfolgt. „Ich hatte Angst vor der Gestapo, nicht vor dem Geschlechtsverkehr“, hat er einmal gesagt. Der Vater wurde ins KZ deportiert, die evangelische Mutter schaffte es, Martin aus einem Zwangsarbeiterlager zu holen. Seinen ersten Sex mit einer Frau hatte Goldstein weit nach dem Dritten Reich – mit 27.

Als er 1969 schließlich begann, unverklemmt über Sexualität zu schreiben, gingen tausende Briefe in der „Bravo“-Redaktion ein. Ein Team begann, sie nach seinen Vorgaben zu beantworten. Wichtig sei ihm damals gewesen, zwischen den Zeilen zu lesen: Was weiß der Briefeschreiber schon, und woher? Braucht er Bestätigung, Trost oder Information? Inzwischen gibt jeder sechste Deutsche zu, Dr. Sommer habe zu seiner Aufklärung beigetragen. (dpa)